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DIE
ARCHITEKTUR
Karl Bötticher die Bezeichnung "Kunstform" gewählt, indem er sie
der "Kernform" oder "Werkform", d. h. der durch die Konstruk-
tion bedingten Gestalt entgegensetzte. Die Kunstform ist daher die
in ihrer organischen Funktion subjektiv verständlich oder
vielmehr ästhetisch fühlbar gewordene Werkform, sie ist
die in einer menschlichen Sprache redende Kernform.
Der Gegensatz zwischen Kunstform und Werkform ist in dem
Wesen der Architektur als Kunst begründet, da ihre NVerke sich nicht
mit dem blossen Sein begnügen können, sondern in ihrer Zweckthätig-
keit erscheinen müssen, um der Natur der ästhetischen Anschauung
gerecht zu werden. Es ist damit selbstverständlich nicht gesagt, dass
ein Baustil, der sich keiner Kunstformen bedient, überhaupt nichts
Schönes hervorbringen könne, sondern eben nur, dass es ihm an einem
Ausdruck der inneren Zweckthätigkeit mangele. Eine rein konstruk-
tive Thätigkeit und Form der Glieder wird nicht gefühlt, sondern
erkannt, infolge wissenschaftlicher Untersuchung oder Erfahrung. Auf
die blosse mechanische Zvireckmässigkeit ist die Thätigkeit des In-
genieurs gerichtet, diejenige des Baukünstlers dagegen auf deren sinn-
fällige Erscheinung.
Wenn eine Form objektiv nicht gegeben ist, sondern nur aus-
drückt, was an ihrer Stelle objektiv geschieht, so kann man sie eine
symbolische nennen. Um Symbole im gewöhnlichen Sinn dieses
Wortes, nämlich um Zeichen, welchen lediglich durch Übereinkunft
einer Mehrzahl von Menschen eine Bedeutung beigelegt wurde, wie
z. B. der Fisch als Symbol für das Christentum, das Lamm für den
Erlöser gebraucht wird, kann es sich hier allerdings nicht handeln.
Vielmehr muss die Bedeutung der in Rede stehenden Formen
unmittelbar einleuchten, ohne dass es einer Belehrung bedürfte,
wenn dieselben ästhetische sein sollen. Daraus folgt, dass es für
gleich empfindende Menschen nur eine einzige Sprache
der Kunstformen geben kann und dass dieselbe Form, so
oft sie auftritt, auch immer dieselbe Thätigkeit bezeichnen
muss. Denn das Gefühl kann gegenüber zwei verschiedenen Formen
unmöglich das glCiChC Sein und ebensowenig in ein und derselben
Form, weil sie an verschiedenen Stellen auftritt, einen verschiedenen
Inhalt finden. Ein elastisches Ruhen versinnlicht uns ganz allein die
fallende Wellenlinie, wie sie der Rist des menschlichen Fusses be-
schreibt, und diese XVellenlinie hat am Fusse eines Gefässes keine
1) Vergl. Adamy, "Die Architektur als Kunst", S. 75, WO gegen jakobsthal
ausgeführt ist, dass es sich nicht um Erkenntnis, sondern um ein Fühlen handle.