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DIE
ARCHITEKTUR.
dass allemal nur der unmittelbare äussere Zweck einen unmittelbaren
Ausdruck in der räumlichen Anordnung finden kann. Zu welchen
Zwecken sich Menschen in einem Raume versammeln, das kann man
demselben, ausser durch symbolische Ornamentik, nicht ansehen; man
kann ihm nur ansehen, dass er zum Zweck der Versammlung von
Menschen dient. Dieser unmittelbare Zweck aber kann in unserm
Beispiel in beiden Fällen gleich aufgefasst werden und in der hervor-
ragenden Betonung der Empfangshalle seinen Ausdruck finden. Allein
es hätte vielleicht auch eine andere Disposition getroffen werden dürfen.
Darin zeigt sich, dass in der hohen Architektur eine sehr grosse Frei-
heit des künstlerischen Beliebens in der Anordnung und Gruppierung
der Räume besteht und zwar infolge der ästhetischen Unbestimmtheit
des äusseren Zweckes, wenn freilich keine absolute. Ein Haus kann
da. sein zur Wohnung oder zur Aufbewahrung von Gegenständen, ohne
dass dadurch eine verschiedene organische Gestaltung desselben be-
dingt würde; ebensogut kann ein Wohnhaus von wesentlich gleichem
Zwecke wie ein anderes eine von diesem sehr verschiedene Gestalt
annehmen.
Aus dem beschriebenen Sachverhalt ergiebt sich eine Kluft zwischen
zwei Gruppen der künstlerisch gestalteten Artefakte, obgleich begrifflich
nur ein sich im umgekehrten Verhältnis bewegender Gradunterschied
der Bedeutung des äusseren und inneren Zweckes in Frage kommt.
Auf der einen Seite steht die Architektur im engeren Sinn, welche,
ästhetisch ziemlich unabhängig vom äusseren Zweck, individuell aus
sich selbst bestimmte Organismen vielfach nach subjektivem Belieben
hervorbringt, indem sie sich hauptsächlich zu richten hat auf formelle
Schönheit in der Kombination der Räume und Raumkörper, sowie
natürlich auf eine stilgerechte Anwendung der statischen Organe und
ihrer durch den inneren Zweck bedingten Formen. Auf der anderen
Seite steht das sogenannte Kunsthandwerk, bei dessen Erzeugnissen
ein erheblich Weniger freies Schalten der künstlerischen Absicht statt-
findet, indem die Form schon von vornherein enge an die vorausge-
setzte Verwendung geknüpft ist. 1) Nun ist freilich dieser Zweck hier
I) Seit dem lhatiptsächlich von Semper inaugtlrierten Aufschwung des Kunst-
handwerks ist eine Auffassung immer mehr bestärkt worden, welche mit dem dar-
gelegten Verhältnis in Widerspruch zu stehen scheint: dass nämlich zwischen dein.
Kunsthandwerk und einer "hohen" Architektur überhaupt nicht unterschieden werden
dürfe. Vergl. G. Hirth a. a. O. 28; Semper a. a. O. S. VII, Anmerkung. Das
ist in dem Sinne, dass auch das Kunsthandwerk als eine hohe Kunst nicht nur auf-
gefasst und gehandhabt, sondern auch vom Publikum gewürdigt werden soll, gewiss
richtig. Denn in der That ist, um ein schönes Gefäss zu eründen, gerade so grosse