176
DIE
ARCHITEKTUR
schwerfälligen Last an Stelle desjenigen freien Tragens treten: im
Begriff der Zweckmässigkeit ist zweifellose Zulänglichkeit gefordert!)
Die konkreten Ideen der nichtnachahmenden Kunst-
werke gehen hervor aus der Verschiedenheit der äusseren
Zwecke der Artefakte. Ihre Verwirklichung ist die Aufgabe des
Baukünstlers im einzelnen Falle, und die künstlerische Gestalt, in wel-
cher die einzelne Aufgabe gelöst wurde, ist das, was man in der
Architektur die individuelle Leistung nennen muss, nicht etwa ein In-
begriff von seitens des Architekten beliebig zusammengestoppelten
Kunstformen. Dadurch ist das Auftreten eines subjektiv individuellen
Stils nicht ausgeschlossen. Bei den Bauwerken geben schon einige
allgemeine Bestimmungen eine Konkretion der Idee an: die Begriffe
Gotteshaus, Wohnhaus, Landhaus, Theater u. dergl, welche die orga-
nische Ordnung bis zu einem gewissen Grade beherrschen; im Übrigen
kommt die konkrete Gestalt eines Bauwerkes auf Rechnung eines
vorauszusetzenden individuellen Bedürfnisses des Bauherrn, mitunter
auch auf Rechnung örtlicher Bedingungen, welche der Künstler zu
bemeistern hat; man erinnere sich beispielsweise an die Genueser
Paläste. Wie wir gleich finden werden, hat die künstlerische Willkür
in der hohen Architektur einen weiten Spielraum, man muss jedoch
die daraus entstehende Anordnung ästhetisch immer als objektiv be-
gründet ansehen.
Die Bedeutung des äusseren Zweckes steigt naturge-
mäss mit dem Grade der Unselbständigkeit des Gebildes in seiner
individuellen Existenz, d. h. mit dem Grade seiner Abhängigkeit
, vom menschlichen Gebrauch.
Betrachten wir z. B. ein Gefäss zum Handgebrauch, Welches zum
Kunstwerk erhoben ist, so ergiebt sich etwa folgende Gestalt: Haupt-
bestandteil ist der Bauch; dieser ist mit einem Henkel versehen; ein
Hals, der sich nach oben erweitert und vielleicht vorn in eine Dille
zusammengezogen ist, dient zum Ausgiessen der Flüssigkeit; das
Ganze steht auf einem unten breiter werdenden F uss. Das Gefass
wird, abgesehen von der rein formellen Erscheinung, schön sein, wenn
es alle diese organischen Bestandteile in ihrer Besonderheit aufzeigt
I) Adamy statuiert (a. a. O. I, S. 54 und passim) ein "Prinzip der ästhetischen
Freiheit". Wir können demselben nur den im Text entwickelten Inhalt zugestehen,
aber nicht denjenigen, dass dem Künstler, wo es sich um ästhetische Gesetze han-
delt, allerlei Ausnahmen und Umgehungen gestattet werden. Ausnahmen können
immer nur bestehen durch eine Duldung, deren notwendige Bedingung die Gering-
fügigkeit des Ungesetzmässigen ist.