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DIE
ARCHITEKTUR.
eben nicht mehr ästhetisch, sondern praktisch. Daher ist es ästhetisch
völlig gleichgültig, 0b ein künstlerisch durchgebildetes Artefakt zu dem
aus seiner Form als ihm zugrunde liegend ersichtlichen Zweck in
Wirklichkeit herangezogen wird oder nicht, denn es wird hier nur
betrachtet, nicht materiell gebraucht. Was wir hiermit systematisch
dargelegt haben, das hat Gottfried Semper nach seiner praktischen
Erfahrung in den Satz formuliert: „Das Werk ist zu betrachten als
Resultat des Dienstes oder Gebrauches, der bezweckt wird, sei dieser
nun thatsächlich oder nur supponiertm) d. h. der Zweck ent-
scheidet über die schöne Form bloss als vorausgesetzte Vorstellung,
nicht als wirklicher Zweck. 2)
I) Vergl. „Der Stil" I, S. 7; II, S. 6.
2) Kant sagt (Krit. der ästh. Urteilskraft, S 51): „Die Baukunst ist die Kunst,
Begriffe von Dingen, die nur durch Kunst möglich sind, und deren Form nicht die
Natur, sondern einen willkürlichen Zweck zum Bestimmungsgrund hat, zu dieser" Ab-
sicht, doch auch zugleich ästhetisch-zweckmässig, darzustellen. Bei letzteren ist ein
gewisser Gebrauch des künstlichen Gegenstandes die Hauptsache, worauf als Be-
dingung die ästhetischen Ideen eingeschränkt werden. „Die Angemessenheit des
Produktes zu einem gewissen Gebrauche das Wesentliche eines Bauwerkes
Kant fühlte den Unterschied zwischen der praktischen und der ästhetischen Zweck-
mässigkeit der Bauwerke; aber die Bedeutung der ersteren erschien ihm als so über-
wiegend, dass er zu einer genaueren Untersuchung des Verhältnisses nicht geschritten
ist. Schiller scheint dasselbe klar erfasst zu haben, wenngleich er sich nicht ge-
rade glücklich ausdrückt (vergl. oben S. 29, Anm. 2). Ed. v. Hartmann stellt in
seinem eben erschienenen „System der Ästhetik" (S. 594 5-) den Sachverhalt in der
Hauptsache richtig dar. Er giebt zu, dass die Dienstbarkeit zu einem ausserästhe-
tischen Zweck dem „unfreien Schönen" selbst dann wesentlich sei, wenn man wisse,
dass es zu diesem Dienste thatsächlich nicht gebraucht werden soll, mit anderen
Worten, wenn derselbe ein bloss supponierter ist; allein er zieht bisweilen Konse-
quenzen, welche dieser Erkenntnis zuwiderlaufen. So z. B. sagt er (S. 597), das un-
freie Kunstwerk berechtige dazu, dem Material abgesehen von seinem Einfluss auf
den ästhetischen Schein, einen selbständigen Wert beizulegen, während bei dem
freien Kunstwerk das Material nur nach seinem Einfluss auf den ästhetischen Schein
geschätzt werde. Ästhetisch ist aber, wie wir darlegen werden, auch bei den „un-
freien Kunstwerken" nichts anderes der Fall. S. 601 u. sagt v. Hartmann, es komme
bei Bauwerken nicht nur auf den ästhetischen Schein an, sondern auch auf den
realen Gebrauch. Ästhetisch kommt es jedoch nicht an auf das reale Brauchen,
sondern! eben nur auf einen vorausgesetzten Gebrauch. Nun liegt aber die Sache
so, dass sehr häufig neben der ästhetischen Beurteilung eine praktische stattfindet;
so namentlich dann, wenn wir am Erwerb eines Artefakts interessiert sind. Leider
können die Resultate mancher architektonischen Konkurrenzen als Belege dafür
dienen, dass die Preisrichter der grossen Schwierigkeit, welche dann zu entstehen
pflegt, nicht gewachsen waren. Wenn sich die beiden Urteile nicht zufällig in einem
Werke vereinigen, dann sollte man sie nur getrennt abgeben und dem Besteller die