156
DIE
VERBINDUNG
DER
MUSIK
MIT
ANDEREN
KUN STARTEN.
Es bedurfte höchster Meisterschaft, um musikalisch so zu ge-
stalten: aus der Fülle des Wohllauts, in unabsehbarem Reichthum und
vollendeter Realisierung des Inhalts, wie ihn das Drama mit sich
brachte, in absoluter Homogenität, Einheit des Stils; es war ein ge-
nialer Wurf, für die dramatische Musik die bisherige Reihenfolge von
liedartigen Melodien durch Zerlegung in zwei polare Elemente, kurze
und abgekürzte Melodien ("Motive") einerseits und eine „unend_
liche Melodie" andererseits zu einem einzigen Guss zu verschmelzen
und das nur als konventionelle Stilform begreifliche und als Lücken-
büsser auftretende Recitativ der alten Oper durch den Sprechgesang
zu ersetzen; 'unter den gegebenen Verhältnissen enthielt er die einzig
mögliche Lösung. Denn einen konventionellen Stil von der Art, dass,
wie im hellenischen Drama, eine klare, systematische Teilung in ge-
sprochene und musikalische Reden stattfinden könnte, fand Wagner
nicht vor, sondern man beabsichtigte eine durchgängige Musikbeglei-
tung. Im modernen Musikdrama wirkte dabei derselbe Trieb, welcher
die moderne Entwickelung der Erscheinung des Dramas charakteri-
sierte: dort musste notwendig die höchste Leistung in der Realität der
Erscheinung erzielt werden, nachdem man einmal zur naturalistischen
Darstellung des Räumlichen vorgeschritten war; dem entsprach in der
Oper eine gleichfalls möglichst weitgehende Befreiung des dramati-
schen Inhalts von der Beschränkung durch die Musik?) Dies war
die gegebene Bedingung, unter welcher Wagner gearbeitet, und das
Problem, welches er gelöst hat. Anders war das Musikdrama in einer
wahrhaft befriedigenden Form für uns überhaupt nicht zu verwirklichen.
Im Drama konnte aber nun die musikalische Architektonik bleibend
nur die Bedeutung haben, dass sich mit ihrer Hülfe ein weit über jede
Vorstellung der Antike hinaus vertiefter geistiger Inhalt mit gewaltig
ausgebildeter Dynamik verkörpern liess.
Wagner hat den Gegensatz zwischen der dramatischen und der
selbständigen Musik ziemlich ebenso aufgefasst, wie wir. 2) Wenn er der
Ansicht war, in den "Leitmotiven" einen ähnlichen technischen Ver-
1) Wagner verfolgte eine durchaus realistische Tendenz, ohne sich im Ge-
ringsten durch die schon in der Verwendung von Musik zum Drama notwendig be-
dingte Negation der Realität desselben beirren zu lassen.
Was ich bei Besprechung des Dramas über den inneren Widerspruch zwischen
den Bestrebungen Friedrich SChöns und seiner wagnerianisehen Gesinnung gesagt
habe, wird nun ganz einleuchten. Denn er verlangt in der That Strengere Stil.
formen.
2)Verg1. z. B. Bayreuther Blätter Jahrgang 1879, II. "Über die Anwendung
der Musik auf das Drama."