DIE
VERBINDUNG
DER
MUSIK
MIT
ANDEREN
KUNSTARTEN-
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Form ist diejenige, wo eine abgeschlossene Melodie sich ohne jede
Rücksicht auf Empfindungsgehalt mit einer abgeschlossenen Wortstrophe
deckt. Denn die Musik kann als bloss formales Spiel mit der
Ausdehnung, dem Rhythmus und den Cäsuren der Strophe in Auf-
gesang und Abgesang zusammentreffen und mit dieser zugleich ge-
nossen werden. Die Rede selbst wird gesungen. Die Entstehung
und Volkstümlichkeit dieser primitiven Form des Liedes wäre erklär-
lich, schon wenn nur der aus der Verbindung von Wort und Musik
für das Gedächtnis erwachsende Vorteil in Betracht käme: so lässt
man die Kinder sich das Einmaleins und andere Pensa singend ein-
prägen, und in ähnlicher Weise sangen die Griechen gemäss dem
Zeugnis des Aristoteles (Probl. I9, 28) die Gesetze vor und auch noch
nach Erfindung der Schrift. 1) Dazu kommt der Vorteil, dass durch
Singen mehrere Personen zugleich dieselbe Rede in ästhetisch erträg-
licher Form vortragen können. Hier wirkt aber schon der Wunsch,
ein gemeinsames Gefühl gemeinsam auszusprechen. So wird denn
auch wohl überhaupt erst diejenige Verfassung des Liedes als der
in ihm zu verwirklichenden Absicht entsprechend angesehen werden
dürfen, bei welcher wenigstens der allgemeine Gefühlsinhalt des Ge-
dichts, etwa die Trauer, in Harmonie und Rhythmus zum Ausdruck
gelangt, welche für alle Strophen jetzt noch gleich ist. Es bedarf
kaum des Hinweises, dass das Volkslied neben bloss formalen, lyrisch
wertlosen auch wunderbar ergreifende Melodien dieser letzteren Art
in grosser Anzahl geschaffen hat. Bei Schubert, der sich in seinen
hervorragenderen Schöpfungen auf die höchste Stufe des Liedstils er-
hebt, finden sich noch viele Tondichtungen dieser Art. Von dort
schreitet der musikalische Ausdruck zur Wiedergabe des konkreten
Inhalts durch Modifikationen der Strophenmelodie, zuerst in einfacheren
Formen, indem etwa, wenn die Wortstrophe mit einer Frage schliesst,
statt des Falls auf den Grundton ein Steigen in die Terz beliebt wird.
Aussolchen kleinen Anfängen entwickelt sich ein freierer Ausdruck
des Gefühlsinhalts in vielfachen Modulationen der Strophe, bis das
Lied endlich zu höchster dramatisch-lyrischer Freiheit bei Aufhebung
der strophischen Wiederkehr gelangt. Statt der Tonarabeske haben
wir nun gewissermassen eine Stickerei mit Bildern, welche in ein ge-
meinsames Netz eingewebt sind.
Wie weit aber nun einerseits das formale Spiel für sich besteht,
I) Vcrgl.
G. Weiss,
c. Lang, "Überblick
1872.
über
altgriechische
Harmonik",
Heidelberg