EINLEITUNG.
"Nachbildungen dessen, was wirklich ist oder sein kann"; und mit
diesem „sein kann" ist das neuerschaffene Schöne angedeutet.
Moritz Carriere bekämpftl) "das alte Wort, welches die Kunst
eine Nachahmung der Natur nennt," mit folgender Ausführung: „Der
Schönheitssinn treibt den Menschen zunächst seinen eigenen Leib zu
schmücken er thut es durch symmetrische oder parallele Linien,
die er bald wellig bald im Zickzack führt; er flicht die Riemen und
den Bast zum Korbe in sinnvoller Verschlingung, er umsäumt das
Ganze so schafft er frei eine Einheit im Mannichfaltigen, und befolgt
im Spiel der Willkür ein Gesetz. Die Kunst selbst beginnt nicht mit
dem Versuche Naturerscheinungen täuschend wiederzugeben, sondern
ihr Entstehungsgrund ist der Trieb und Drang des Geistes seine
Gedanken und Empfindungen in einem bleibenden Werk wie zum
Denkmal auszuprägen; sie ruht ursprünglich in der Wiege der Religion.
Und wo lägen denn in der Natur die Vorbilder und Muster, welche
die Architektur bei der Erbauung hellenischer Tempel und gothischer
Dome, welche die Musik in einer Symphonie nachahmen sollte?" Es
leuchtet sofort ein, dass wir diesem Gedankengang durch unsere Ein-
teilung der Künste den Boden entzogen haben. In der Architektur
handelt es sich allerdings nicht um Nachahmung und in der Musik
zunächst gleichfalls nicht. Wenn aber Tättowierung und Korbilechterei
ein formell schönes Linienspiel ohne jede Nachahmung herstellen, so
treten sie eben dadurch in Gegensatz zur letzteren. Darüber, welche
von beiden Kunstgattungen die ältere sei, wissen wir nichts. Der
natürliche Sachverhalt ist wohl der, dass sie zur Zeit des Beginnes
der Kunst ebenso nebeneinander aufgetreten, sind, wie heute. Beweis
dafür ist die Kunstthätigkeit der in unserer Zeit lebenden Naturvölker.
Wenn man aber wider alle Erfahrung die Thatsache der Nachahmung
leugnet oder bei Seite lässt, so ist eine befriedigende Beantwortung
einer Reihe von wichtigen Fragen des künstlerischen Schaffens über-
haupt nicht möglich und also eine erschöpfende Darlegung seiner
Gesetze nicht denkbar?)
I) "Ästhetik" S. 556.
2) Die Kunstgeschichtsschreibung zeigt sich im Ganzen als von der philosophi-
schen Ästhetik abhängig. Karl Schnaase z. B. stellt seinem grossen Werke (Gesch. d.
bild. Künste, II. Aufl, Düsseldorf seit 1866) eine ästhetische Einleitung voran, in welcher
er (I, S. 29) die Nachahmung als Einteilungslbrinzip der Künste verwirft. Dies erscheint
nur natürlich, wenn man erwägt, wie gross der Einfluss der Philosophie, vor allem der
HegePschen, auf die Geschichtsschreibung überhaupt war und welches unbestreitbare
grosse Verdienst sie um dieselbe hat. Dass man den Wenigen, welche nach dem
Vorgang des Aristoteles, in der pipnqotg die primärste ästhetische Thatsache erblickten,