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DIE
NACHAHMENDEN
KÜNSTE.
listischeren Haltung desselben hervorgehe, so liesse sich mit ziemlicher
Genauigkeit eine Skala von gleichberechtigten Formen zwischen den
beiden Endpunkten der prosaischen und der am meisten poetischen
Form feststellen. Allein der eigentliche Zweck ist die Nachahmung
des Gegenstandes und ein geringer Hinweis auf die Scheinnatur des
Bildes genügt der hieraus iliessenden Anforderung schon vollständig;
Lessing legte nicht blos kein Gewicht auf die poetische Sprache des
Dramas, ja er hat sie sogar für schädlich bezeichnet. Die germani-
schen Nationen scheinen ausserdem mehr auf den Inhalt zu sehen, als
auf formelle Schönheiten. Der Gebrauch, Welchen Shakespeare von
der dichterischen Sprache gemacht hat, wird daher für uns als die
Grenze des Zulässigen zu bezeichnen sein, ja er überschreitet sie viel-
leicht, wenn er zum Reime greift. Der Reim durchbricht die klassische
Form entgegen dem Gesetz der Einheit des Stils. Die Stilisierung
im 3. Akt der Maria Stuart geht für unsern Geschmack vielleicht zu
weit und versetzt jedenfalls die naturalistische Gesamthaltung des
Dramas mit dieser Erscheinung in einen gewissen Widerspruch. Wenn
dagegen im modernen realistischen Drama, wie es für Lessing „Emilia
Galotti" u. s. w., für Schiller „Die Räuber" und „Kabale und Liebe"
waren, kein Gebrauch von ihr gemacht wird, so dürfte dies das Rich-
tige sein. In derjenigendichterischen Leistung, welche durch allerhand
pWendungen in einem reichen Spiel der Phantasie die Sprache über
die alltägliche Redeweise erhebt, ist keine Stilisierung, sondern eine
idealistische Thätigkeit, d. i. die Auswahl des Schöneren im Bereich
des unter der Voraussetzung des gegebenen Gegenstands Möglichen,
zu erblicken, welche der bildnerischen Schönheit in der Dekoration
analog wirkt. Sie kann nur da eintreten, wo sie der Wahrheit und
natürlichen Möglichkeit nicht widerspricht, und gehört also gleich-
falls mehr in das idealistische Drama, als in das realistische. Die
Überschätzung des Litterarischen aber bezeichnet ein Missverständnis,
welches für die Auffassung des eigentlich Dramatischen ebenso ver-
hängnisvoll werden kann und geworden ist, wie das übermässige Be-
tonen der Bühnenerscheinung.