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DIE
NA CHAHMENDEN
KÜNSTE.
auch keine Stilisierung. Aus demselben Grunde gehört der Kostüm-
prunk der Schauspielerinnen in den modernen französischen "Sitten-
dramen" zur Sache selbst und ist hier keineswegs verwerflich, ja im
Gegenteil beinahe unentbehrlich. In jedem Falle wird durch die
äussere Umgebung die Stimmung des Dramas bedingt. 1)
Die Forderung einer zutreffenden räumlichen Erscheinung ist an
sich keine äusserliche; aber sobald ihr zuliebe das richtige Mass
überschritten wird, bekundet dies eine durchaus verwerfliche Tendenz,
an Stelle des hohen Gegenstands des Dramas etwas Äusserliches zu
setzen. Deshalb kann man vom Zuschauer verlangen, dass er den
objektiven Mangel einer nebensachlichen Erscheinung subjektiv aus-
gleiche, widrigenfalls er sich verdächtig macht, von der Würde des
Dramas keinen richtigen Begriff zu haben. Er wird sich bei richtiger
Auffassung in seinen Ansprüchen an die naturalistische Darstellung
wenigstens soweit bescheiden, dass er einen Mangel derselben lieber
hinnimmt, als die Störungen, welche für die Betrachtung der dramati-
schen Idee aus ihrer Übertreibung hervorgehen können. Solche Über-
treibungen sind aber nicht selten geworden. Was soll es z. B. heissen,
wenn wir statt in die Behausung Götzens in das altdeutsche Speise-
zimmer eines reichen Mannes unserer Tage geführt werden und neue
Seidenplüschdecken auf den Tischen herumliegen, während Selbitz
„alles noch wie vor IO Jahren" findet? Allzuscharf macht schartig;
wenn in der letzten Szene der Maria Stuart Rococomöbel mitspielen,
so ist dies an und für sich nebensächlich; aber gegenüber einer Ten-
denz auf absolute historische Richtigkeit ist es lächerlich. Je ideali-
stischer die Gesamthaltung des Dramas ist, desto stärker wird die
Dissonanz. So z. B., wenn bei den Meiningern im dritten Akt der
I) So etwa verhielten sich auch die Gewänder auf dem Theater Shakespeares
Nik. Delius sagt darüber (a. a. O. S. 13) folgendes: "Das Kostüm scheint, nach den
aufbewahrten Inventarien zu schliessen, ziemlich mannigfach und kostbar gewesen
zu sein, nur nicht nach unseren Begriffen einer ängstlich beobachteten historischen
Treue in der verschiedenen Kostümierung verschiedener Zeiten und Völker. Ein
jetziges Theaterpublikum Würde ohne Zweifel in der Kostümierung der Shakespeare-
schen Schauspieler ebensoviele Anachronismen entdeckt haben, wie die Kritiker sie
in den Shakespearäschen Dramen zu rügen finden." Indessen ist hier doch an-
zumerken, dass, wie wir im Text noch betonen werden, die historische Treue sich
nach der Vorstellung der BCSClIauer bemisst. Der Bildungsgrad war aber damals
ein recht geringer in dieser Beziehung; der Anachronismus wurde also gar nicht
empfunden. Es lässt sich daher annehmen, dass man das historische Kolorit keines-
wegs ganz beiseite setzte, sondern dass man es eben nur in derselben naiven Weise
behandelte, wie es in der damaligen Historienmalerei ebenfalls geschah.