DRAMA
UND
DICHTKUNST.
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an, dass die mit Rücksicht auf den Sachzusamrnenhang notwendigen
Ereignisse vorgeführt werden, einerlei wo sie stattgefunden haben,
jedoch nicht, wie Gottsched gemeint hat, darauf, dass alles gezeigt
das Ohr, die bildenden Künste für das Auge, die Poesie für den innern Sinn: die
Einbildungskraft. Die dramatische Kunst schafft weder allein für das Auge, noch
allein für das Ohr, noch allein für die Einbildungskraft. Die dramatische Kunst
schafft für die Einheit der Sinnlichkeit, für die Einheit der äusseren Sinne und des
inneren Sinnes, wie dieselbe in der Auffassung des wirklichen Lebens vom Menschen
bethätigt wird." Darin stimmen wir völlig mit ihm überein. Lepsius sagt aber
weiter (S. 51): "Angesichts der Wagneüschen Theorie des Dramas steht die Ästhetik
vor der Alternative, entweder zuzugeben: das Drama ist das Gesamtkunst-
Werk, welches alle andern Kunstarten in sich begreift, oder zu behaupten: das
Drama ist eine Kunstart, welche alle andern Kunstarten (nicht nur die Musik
und die bildenden Künste, sondern auch die Poesie) von sich ausschliesst. Wir
sagen aber: das Drama ist nicht das Gesamtkunstwerk, sondern eine besondere
Kunstart. Die Idee des Gesamtkunstwerks, welche Richard Wagner aufgestellt
hat, ist nichts anderes, als die Gesamtheit der innerhalb der dramatischen Kunst
möglichen Irrtümer." Hier liegt ein Fehlschluss vor, welcher das beste Verdienst
der Lepsiuäschen Arbeit wieder aufhebt. Man soll nämlich nach Lepsius' eigener
Annahme unter "Gesamtkunstvrerk", wenn man das Drama so bezeichnen will, ein
Kunstwerk verstehen, welches sich an unsere gesamte Fassungskraft, an alle unsere
Wahrnehmungsorgane zugleich wendet. Dann aber begreift es einerseits nicht not-
wendig alle Künste in sich, nämlich nicht die Musik und nicht die Kunst der poeti-
schen Rede; andererseits wirkt es notwendig in dem Bereich der bildenden Kunst,
und auch die poetische Sprache und die Musik können zum Drama hinzutreten, ohne
dass dadurch der Inhalt desselben auch nur berührt, geschweige denn modifiziert
wvürde, sei es dass sie als blosscs Ornament, sei es dass sie als Ausdrucksmittel von
Empfindungen dienen. Und wenn einmal das Drama die NVahrnehmungsthätigkeit
des Gesichts in Anspruch nimmt und nicht, wie die Poesie, in der blossen Einbil-
dungskraft wirkt, wenn also dies gerade nach Lepsius das Unterscheidende beider
Künste ist, so lässt sich doch durch nichts rechtfertigen, dass man die Örtlichkeit
von der Wahrnehmung des Auges ausschliessen sollte. Also kommt ohne Zweifel
die Auffassung, dass das Drama Gesamtkunstwerk sei, nach Lepsius' eigenen Voraus-
setzungen der Wahrheit näher, als die andere, dass es eine Poesie, Musik und bil-
dende Kunst ausschliessende Iiunstart sei. Man kann nun aber ferner, wie im Text
näher dargelegt werden wird, das Gesamtkunstwerk auch so verstehen, dass darin
das spezifisch Schöne aller einzelnen Künste zugleich hervorgekehrt werden soll.
Dieser Auffassung kann man allerdings mit Grund die Behauptung entgegenstehen,
dass das Drama eigene Zwecke verfolge und deshalb keine Einmischung fremder
Künste dulden dürfe. Man hat also einen anderen Begriff vom Gesamtkunstwerk
untergeschoben, um zu Lepsius' schliesslicher Auffassung vom Drama zu gelangen,
als er ursprünglich vorausgesetzt war. Und gerade wenn man den dramatischen
Zweck für den ausschliesslichen Gegenstand des Dramas erklärt, muss man R. WVagner
Recht geben, wenn dieser der alten Oper einen Vorwurf daraus macht, dass sie die
Musik, ein blosses Mittel des Ausdrucks, zum Zwecke erhoben habe, während doch
das Drama der Zweck aller darin zusammenwirkenden Ausdrucksmittel sei. (Vergl.