Volltext: System der Künste

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DIE 
NACHAHMENDEN 
KÜNSTE. 
und Begebenheit mimisch und nicht in blosser Phantasie dargestellt 
worden. Also hat das Drama seine eigene Entwicklungsgeschichte, 
welche es nur anfänglich teils mit dem lyrischen, teils mit dem epischen 
Elemente der Dichtkunst vermischt zeigt; solche Unklarheit an sich 
selbst ist aber das Kriterium jeder Urgeschichte. Es ist natürlich, 
dass unter diesen Verhältnissen das Drama eine eigentümliche Be- 
gabung bei dem produzierenden Künstler voraussetzt, welche von den 
dichterischen Fähigkeiten unterschieden werden kann. So machen wir 
denn auch die Bemerkung, dass die grössten Dramatiker aller Zeiten 
selten Gelegenheit genommen haben, Gedichte zu machen, und dass 
unser grösster Dichter nicht unser grösster Dramatiker war. Die 
mimische Kunst ist für das Zustandekommen der rein dramatischen 
Idee unentbehrlich und ein Darstellungsmittel des Dramatikers. Ein 
einzelnes Wort, eine Miene kann im Drama von höchster Bedeutung für 
den Zusammenhang der Handlung sein; während beides bei der Bühnen- 
aufführung zu unmittelbarer Wirkung und vollem Verständnis gelangt, 
müssen wir jenes beim Lesen häufig erst nachträglich ausfindig machen 
und diese überhaupt erraten; Unmittelbarkeit aber ist dem Kunst- 
genuss wesentlich. In einer poetischen Erzählung wären jene Geberden 
vielleicht beschrieben worden; im Drama entfällt die Beschreibung als 
undramatisch. Endlich kann ein rein bühnentechnischer Effekt die 
vom Dichter beabsichtigte Vorstellung selbst ausmachen, z. B. beim 
Erscheinen von Menschenmassen, welches im Zusammenhang der dar- 
gestellten Begebenheit begründet ist und denselben beeinflusst. Der- 
gleichen kommt namentlich bei Schiller häufig vor. Wer einmal eine 
richtige Darstellung der Pappenheimerszene in "Wallensteins Tod" 
gesehen hat, der weiss, wie nur durch das Drängen und Nachdrängen 
einer grossen Zahl von Menschen die Intention des Dichters (Max: 
"Noch mehr! es hängt Gewicht sich an Gewicht  ganz erfüllt wird. I) 
So ist denn auch die Lektüre der Shakespeareschen Dramen, besonders 
der historischen, einfach eine ungenügende Form ihres Genussesß) 
Wer geneigt sein sollte, auch hier die Lektüre der Bühnenauffuhrung 
I) Hier liegt das unanfechtbare Verdienst der Meininger. 
2) Dies auch die Ansicht von Gervinus. Vergl. dessen "Shakespeare", Leipzig 
1850 IV, S. 261: "Die RiiCkführllng der Manier Shakespearäs auf die Zwecke der Cha- 
rakteristik lässt sich durch den Schauspieler viel weiter treiben, als der Leser für möglich 
hältj." und S. 258: "Würden wir Shakespeare ebenso nur sehen, wie wir ihn bisher 
fast nur lasen, so würde sich leicht das Letzte, was uns noch ungehörig erscheint, wenn 
nicht überall als Schönheit der Kunst, doch als YVahrheit der Natur herausstellen." 
Aber die Schönheit C185 Dramas liegt ganz allein in seinem sittlichen Resultat, und 
Shakespeares Werke wahren dieselbe durchaus (Gervinus a. a. O. IV, S. 321, 368 
	        
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