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DIE
NACHAHMENDEN
KÜNSTE.
Der einzige diskutable Einwand gegen die Polychromierung der
Bildwerke Wäre derjenige, dass es der Plastik nur auf das „plastisch
Schöne" anzukommen habe; wir haben denselben jedoch bereits wider-
legt: nicht das plastisch Schöne ist Gegenstand der Darstellung,
sondern mögliche Erscheinungen der wirklichen Welt durch Plastik
und daher auch mit besonderer Absicht auf das plastisch, oder, um
jeden Zweifel auszuschliessen, auf das organisch Schöne der Körper.
Es ist die Ansicht ausgesprochen worden, dass jedenfalls schon bei
der bildnerischen Thätigkeit berücksichtigt werden müsse, ob man das
herzustellende Bildwerk bemalen wolle oder nicht. Indessen berühren
sich bei tadelloser Behandlung des Plastischen Farbe und Form gegen-
seitig überhaupt nicht, Wenigstens im Prinzip. Dies beweisen die Bild-
werke der Griechen, welche auch in monochromem Zustande durch-
schnittlich tadelfreie plastische Leistungen sind, während sie doch
durchaus zur Färbung bestimmt und gefärbt waren. jedes ästhetische
Urteil über Farbe oder Form bleibt notwendig im Gebiet desjenigen
von beiden Faktoren, auf welchen es sich bezieht. Man kennt nun
aber eine "malerische" Behandlung der Bildwerke, welche das eigent-
lich unterscheidende Merkmal derjenigen Richtung in der Skulptur ist,
welche man jetzt gewöhnlich mit dem Namen des "Naturalismus" be-
zeichnet. Diese offenbare Stilwidrigkeit verträgt sich nicht mit der
ausserordentlich viel stärkerem Masse vorhanden, als schon bei einer getönten, ge-
schweige denn als bei einer naturalistisch bemalten Statue. Wenn letzterenfalls noch
etwas auf die Differenz ankäme, so könnte man auch keine Tafelbilder malen.
Hartmann dreht hier den Sachverhalt ebenso um, wie Vischer dies thut, wenn er
z. B. behauptet, das aus Glas, Onyx etc. hergestellte Auge der antiken Statuen habe
nicht den konzentrirten Glanz, wie das menschliche. Erstens ist dies nicht der
Fall, und zweitens käme es nicht nach der entscheidenden Richtung hin in Betracht.
Auch die Ansicht, dass „bei blosser Tönung der eigentliche Begriff der Verbindung
von Künsten aufhöre," ist wertlos, weil dies bei einer naturalistischen Bemalung
nicht minder der Fall ist; hier steht nur ein geringeres Mass von Negation
der Realität des Bilds in Frage, als bei der Monochromie. Ohne Zweifel ist
richtig, dass die Polychromie wenigstens die Auffassung der abstrakten Form er-
leichtern würde, wenn sie auch nicht zum realistischen Inkarnat übergeht (Fechner,
v. Hartmann). Eine polychrome Skulptur würde sicherlich populärer sein, als es die
monochrome ist. Die Anschauung eines Kupferstichs ist eine weniger einfache, als
diejenige eines Gemäldes. Es war aber eine Ungenauigkeit, wenn ich in der zit.
Abhandlung (S. 50) sagte, die Polychromie der Skulptur sei im Prinzip des Realismus
begründet. Denn dieses Prinzip hat es zu thun mit dem Zustandekommen der Er-
Scheinung in ihrem ideellen Schwerpunkt, welchem das Inkarnat des Körpers in
vielen Fällen verhältnismässig fern steht. Die Polychromie ist vielmehr begründet
in der nachahmenden Natur der Kunst, aus welcher freilich auch das Prinzip des
Realismus hervorgeht.