DIE
BILDENDEN
NACHAHMENDEN
KÜNSTE.
109
DIE
BILDENDEN
NACHAHMENDEN
KÜNSTE.
Skulptur und Malerei ahmen beide räumliche Erscheinungen
nach, sind aber insofern verschieden, als die erstere die Körper des
Raumes darstellt ohne deren Erscheinungsbedingungen, insbesondere
die Lichtquelle, zu fixieren, letztere dagegen die Körper samt dem
Raum, in welchem sie erscheinen, in gegebener Abgrenzung wieder-
giebt. Die Antike bediente sich zumeist und anfangs ausschliesslich
der Skulptur, wir mehr der Malerei. Dass letztere auf einer
Fläche nachahmt, während die Plastik räumliche Körper
erstellt, macht im Resultat keinen irgend erheblichen
Unterschiedf) In beiden Fällen ist es möglich, von der Farbe zu
abstrahieren (monochrome Plastik und Malerei „Grau in Grau"). In
idealistischer Hinsicht unterscheiden sich beide Künste dadurch, dass
die eine mehr zur Darstellung des plastisch Schönen, die andre mehr
zur Darstellung des malerisch Schönen geeignet ist und, nach dem
qualitativen Stilgesetz, benutzt werden soll. Dies hindert jedoch weder
im einen noch im andern Fall die gleichzeitige Betrachtung von Form
und Farbe, auch nicht die gleichzeitige Betrachtung des plastisch und
farbig Schönen. Die entgegenstehende Behauptung ist eine willkür-
liche und würde dahin führen, dass die Gemälde Rafaels verworfen
werden müssten, weil sie entschieden mehr durch die plastische
Schönheit der Gestalten als durch die Schönheit der Färbung wirken.
Prinzipiell sind Malerei und Skulptur lediglich zweierlei Mittel zur
1) Dies hat unter den philosophischen Ästhetikern Schleiermacher einge-
sehen (vergl. "Ästh." S. 136 und 153); jedoch wiederholt er die unglückliche Idee
Herders, dass es ein besonderes „tastendes Sehen" gebe. Rumohr erblickte keinen
wesentlichen Unterschied in der Nachahmung von Körpern durch Skulptur und durch
Malerei. Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht der Eindruck farbiger
Bildwerke samt ihrem Hintergrund von einem gemalten Bilde desselben Inhalts
wenigstens infolge des stereoskopischen Sehens verschieden sei; bis jetzt ist dies
meines Wissens nicht geschehen. Abgesehen hiervon wird das Bildwerk sogut wie
das Gemälde als Fläche angeschaut und ist die Statue nur ein drehbares Bild. Man
kann es aber dahingestellt sein lassen, wie die Physiologie diese Frage beantwortet,
ob sie es für unmöglich oder für möglich erklärt, dass beim binokularen Sehen der
Maler durch die Behandlung des Konturs volle Plastizität erreiche wie er wenig-
stens beabsichtigt denn es kommt eben darauf gar nicht an, sondern, nach dem
mehrfach zitierten Ausspruche Schillers, nur auf die Richtigkeit und Reinheit unseres
ästhetischen Urteils. Praktisch genommen ist der Unterschied jedenfalls minimal,
und selbst bei vollkommen natürlicher Wiedergabe der Gegenstände durch die Plastik
können negative Momente in ausreichendem Masse vorhanden sein. Über die Be-
strebungen der Malerei, den Effekt des stereoskopischen Sehens durch eine malerische
Behandlung der Umrisse zu erreichen, vergl. G. Hirtlfs „Cicerone in der Pinakothek,"
München 1888, S. XLV ff.