EINLEITENDES.
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des ganzen Kunstwerks wird dergleichen noch besonders gerechtfertigt,
wie z. B. der Liebestrank in Wagners "Götterdämmerung."
Damit ist ein Sachverhalt von hervorragender praktischer Wich-
tigkeit und Vielleicht das allgemeinste Gesetz, nach welchem die pro-
duktive und die reproduzierende Phantasie verfahren muss, festgestellt. I)
Wenn ich nunmehr, in die besondere Betrachtung der nachahmenden
Künste eintretend, zunächst einige scheinbare Verbindungen mit nicht-
nachahmenden Künsten erörtere, so glaube ich damit einem praktischen
Bedürfnis zu genügen.
I) Wir führen in der Folge eine Untersuchung, welche sich im grossen ganzen
lediglich auf das Verhältnis der äusseren Erscheinung zu dem Kunstwerk erstreckt;
namentlich wird bei Besprechung des Dramas von der Verknüpfung der Thatsachen
nicht weiter die Rede sein. Es sei mir daher gestattet, an dieser Stelle darauf hin-
zuweisen, dass auch die Verknüpfung der Thatsachen im Drama nach dem vorhin
entwickelten Grundsatz beurteilt werden muss. Die natürliche Möglichkeit dessen
was erscheint, ist eine allgemeine Forderung der Phantasie. Daraus folgt, dass eine
Begebenheit, welche im Drama Folgen nach sich zieht, nicht notwendig in hohem
Grade wahrscheinlich, sondern dass sie eben nur nach der Anlage der Charaktere
und nach den Umständen, in welchen diese sich befinden, möglich sein muss; ganz
unwahrscheinlich darf sie natürlich nicht, und die wahrscheinlichere Begebenheit
wird die dramatisch bessere sein. Es besteht hier also ein Gradunterschied. Wenn
wir in dieser Beziehung jedoch zu rigoros sind, wenn wir, wie es bei manchen Kri-
tikern beliebt ist, stets den Punkt suchen, wo wir fragen: "Wie konnte der Held nur so
etwas thun, so etwas glaubenH", so berauben wir uns des Genusses ausgezeichneter
Kunstwerke. Auch im Leben werden von sehr gescheiten Menschen grosse Thor-
heiten begangen; dies ist also nicht an sich unwahrscheinlich. Es ist nicht sehr
wahrscheinlich, wenn in „Viel Lärm um nichts" Claudio beim Anblick des nächt-
lichen Gesprächs eines Knechtes mit einer nicht deutlich erkennbaren Persönlichkeit
dem Verleumder der stillen Hero Glauben schenkt: Shakespeare hat nur weniges
dazu beitragen können, dass es glaubhafter werde, und gleichwohl den Stoff nicht
verschmäht. Dass Louise in „Kabale und Liebe" den Brief schreibt, ist wie manches
andere, nicht sehr wahrscheinlich; aber in anbetracht der vorausgesetzten Verhältnisse
ist es sehr wohl möglich. Und nicht anders verhält es sich mit der Kette von Un-
Wahrscheinlichkeiten im "König Oedipus," welche J. L. Klein (Geschichte des Dra-
mas I, S. 330 ff.) aufzeigt. Man macht in dieser Beziehung den modernen Drama-
tikern häufig viel zu weit gehende und ihre Produktionskraft lähmende Zumutungen.
Stichhaltig bleibt im allgemeinen nur der Einwand, dass eine Handlung dem gege-
benen Charakter der handelnden Persönlichkeit unter den gegebenen Verhältnissen
widerspreche. Ausserhalb des Dramas liegende Voraussetzungen kann der Künstler
wählen, wie er sie braucht, wenn sie nur ihrerseits möglich sind.