DIE
MÖGLICHKEIT
DER
VEREINIGUNG
VERSCHIEDENER
KÜNSTE.
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Unterbrechung ein räumlicher Gegenstand, z. B. eine Illustration an-
geschaut werden, ohne dass deshalb die Weiterverfolgung des Ge-
dankengangs vereitelt wäre. Also ändert sich das vorhin festgestellte
Verhältnis, wenn und insoweit die Möglichkeit vorliegt, Wclagsmbgidg
Eindßsaebwechselnd in nnseraßsliliääiääifliäetän- Die tägliche Er-
Dfahrwung lehrt ferner, dass die Farbe und die F orm eines Gegenstands
in jedem Fall zusammen aufgefasst werden. Es ist dabei für uns gleich-
gültig, 0b die beiden Sinneseindrücke abwechselnd in's Bewusstsein
treten, oder zugleich; genug, dass sie zusammen perzipiert werden.
Ebenso gewinnen wir nun aber auch, während wir den Verlauf einer
im Raum vor sich gehenden Begebenheit verfolgen, ein Bild ihrer
körperlichen Träger, des Raumes, in welchem sie sich abspielt und
der handelnden Personen. Daraus folgt, dass uns die Natur offenbar
so eingerichtet hat, dass wir befähigt sind, alle Bestandteile
einer jeden einheitlichen Erscheinung der wirklichen Welt
geistig zusammenzufassen, obgleich sie durch die Sinne ge-
trennt aufgefasst werden müssen. Einen Sinn, welcher die Er-
scheinungen in ihrer Totalität zu erfassen vermöchte, hat uns die Natur
nicht verliehen. Aber offenbar hat sie dieses Resultat doch beabsichtigt,
und die Compliziertheit des Apparats, welchen sie uns zu dem Ende
verliehen hat, verhinderte sie nicht, es zu erreichen. Zwei verschiedene
zeitliche Gegenstände aber lassen sich unmöglich zusammenfassen, weil
sie unter allen Umständen wahrhaft verschiedene Gegenstände sind.
Man kann nicht gleichzeitig zwei Begebenheiten im Verlauf ihrer Mo-
mente verfolgen.
Aus diesen Thatsachen ergiebt sich, dass die Solgeßsche Vor-
stellung vom "Gesammtkunstwerk" von vornherein hinfällig ist. Denn
es erzeugt wohl eine festliche Stimmung, wenn wir das Drama in
einem würdigen Werk der Architektur, in einem festlich geschmückten
Hause betrachten; allein wir können uns nicht zugleich der Betrachtung
des letzteren widmen. Man kann eine Kirche und ihre Färbung zu-
sammen erfassen, aber man kann nicht eine Kirche betrachten und
gleichzeitig ein darin aufgehängtes Bild. Der ästhetische Genuss „mu-
sikalischen Gottesdienstes in kühn emporstrebenden Gotteshäusern um-
geben von religiösen Bildern" ist unthunlich. Von alledem mag man
zugeben, dass das Lautwerden einer Musik von religiösem Charakter
beim Betrachten einer Kirche lyrisch auf uns einwirken könne; man
setze aber statt religiöser Musik irgend eine weltliche, so hört die
Möglichkeit jedes Parallelismus der Genüsse auf. Dagegen schwebte
der richtige Gedanke von der Totalität unsrer Wahrnehmungen
Schleiermacher vor. Er sagt (Ästh. S. 155-167), dass die künst-
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