N ACHAHMUN G
UND
MEISTERSCHAFT;
KLASSIZITÄT.
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kann auch eine grosse Kunstepoche niemals unbedingt als Vorbild
dienen. Die Kunstepochen werden alt, wie die Künstler, und im selben
Grade steigt die Herrschaft ihrer Besonderheiten. Die unbedingte Hin-
nahme einer Kunstepoche als Vorbild wird daher über kurz oder lang
zu einer Reaktion der lebenskräftigen Elemente der neuen Zeit führen.
Aber wenn sich dann eine solche Reaktion auch gegen das wahrhaft
Mustergültige kehrt, so besteht die Gefahr des Unterganges der Kunst. I)
Unfreiheit, Unwahrheit und ein verwerflicher Mangel an Achtung
unsrer Eigenart wäre es, wenn wir uns an dasjenige binden würden,
was lediglich der Ausdruck einer fremden Subjektivität ist. Es muss
zugegeben werden, dass selbst die Antike von Conventionalität nicht
ganz frei war und dass in ihrer Beurteilung mannigfach gesündigt
worden ist, indem man auch die Äusserungen ihrer Eigenart für
klassisch ausgab, indem man sie für einen unbedingten Massstab des
Schönen erklärte. Die Bildnerei der Hellenen hat jedoch sowohl in
der Darstellung des Natürlichen, als in der Behandlung des Marmors
als Vorbild nahezu objektive Geltung. Der Künstler, welcher in dem
Bestreben, Neues zu bieten, naturalistischer als die Antike sein will,
indem er sich z. B. bemüht, farbige Erscheinungen durch plastische
Darstellung wiederzugeben, läuft lediglich Gefahr, sich gegen die Ge-
setze der Materialbehandlung zu verfehlen. Dagegen wird man sich
mit gewissen Neuerungen, wie z. B. der freieren Wiedergabe des
1) Daraus erhellt, dass die Herausstellung des Subjektiven aus den Vorbildern
eine Aufgabe der Ästhetik ist, durch deren Lösung sie geradezu ihre Existenzberech-
tigung nachweisen muss. Mit dieser Erkenntnis aber haben wir recht den Finger
in die XVunde der philosophischen Ästhetik unseres Jahrhunderts gelegt: da. sie nicht
dazu befähigt war, auf allgemein gültige Normen der Darstellung des Schönen los-
zugehen, musste sie sich zumeist damit begnügen, die Darstellungsweise anerkannter
Meister in ihrer Ganzheit als Muster zu bezeichnen. So traten, wie in Vischers ab-
solutem Stilbegriii", eine Reihe von Künstlern und Kunstepochen als absolut gleich-
berechtigt nebeneinander, während der Wert ihrer Leistungen doch ein sehr ver-
schiedener ist. Steuerlos treibt unser KunstschaHen trotz grosser Einzelleistungen
umher, weil uns die Ästhetik, während sie doch Wissenschaft vom Schönen zu sein
prätendierte, gerade über dasjenige nicht belehrte, was wir unbedingt wissen müssen,
damit wir von der heutzutage angehäuften Masse von Kunstschöpftmgen aller Zeiten
und Völker nicht erdrückt werden, sondern sie beherrschen. Auf der andern Seite
aber hat sie bei der unbedingten Hinnahme ihrer Autoritäten oft genug kein Auge
dafür gehabt, was an den Leistungen der Jüngeren gut war. Sie erwies sich da-
durch, während sie die nationale Kunst durch ihre Thätigkeit zu unterstützen be-
stimmt wäre, weit häufiger als ein Hemmschuh für dieselbe. Ich Stehe nicht an,
aus diesem Grunde ihr selbst die hauptsächliche Schuld daran beizumessen, dass sie
in letzter Zeit in völligen Misskredit geraten ist.