was ihr zukommt: Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung. Dieser
platonische Gedanke beherrscht und krönt die ganze Schöpfung
Raphaels in der vielbewunderten Stanza della Segnatura. Keine
Spur einer scholastischen Unterordnung des Wissens unter den
Glauben findet sich in dem berühmten raphaelischen Gemälde, die
Schule von Athen. Ebenso betont aber auch Raphael die autoritäre
Haltung der Theologie in dem Deckengemälde über der Disputa
gegenüber der freien philosophischen Forschung also keinen
Vorrang der Philosophie vor der Theologie, aber auch keine Unter-
ordnung, sondern die freie Nebenordnung von Wissen und Glauben
und die freie Einordnung beider in das Kultursystem des reinen
Menschentums, der Humanität.
So grundverschieden auch die beiden größten Meister der
italienischen Renaissance, Michelangelo und Raphael, als Menschen
und Künstler sind, tragen doch ihre Hauptwerke das gleiche Gepräge
des Zeitalters, den Stempel des philosophischen oder platonischen
Humanismus. Rein platonisch ist es, wenn Raphael sein Hauptwerk
in den Stanzen des Vatikan nach den vier höhern Sphären der
menschlichen Kultur gliedert, welche Platon im Phadros als auf
das Ewige und Uebersinnliche gerichtet unterscheidet und auf eine
sibyllinische Natur des menschlichen Geistes zurückführt, nämlich
Glauben und künstlerisches Schaffen, Wissen und sittliches Leben.
Ebenso ist es platonisch, wenn die vier allegorischen Deckenbilder
des Kreuzgewölbes Fakultäten oder Anlagen und nach Pico von
Mirandola Keime eines allartigen Lebens genannt und in reicher
historischer und psychologischer Entwickelung von Blüten und
Früchten der menschlichen Kultur an den entsprechenden vier
Seitenwänden dargestellt werden. Den gleichen Gegensatz zwischen
psychischen Anlagen und ihrer historischen Kulturentwickelung
zeigt Michelangelos Sistina in dem mit Vernunft und Willen be-
gabten Adam oben auf der Höhe des Tonnengewölbes und darunter
auf den zwei Seitenwänden in den beiden Hälften des sibyllinisch-
prophetischen Rings, an deren Spitze der philosophische Frager
und Forscher J onas und der glaubenseifrige Prophet Ezechiel stehen.
In ethischer Hinsicht stimmen ferner beide Künstler auf der plato-
nischen Grundlage der Idee der Menschenwürde ebenso unter ein-
ander überein, wie der platonische Staatsmann in seiner einfachen