gefunden hat, sogar in der trübsten Zeit des Mittelalters in einem
Miniaturgemälde aus dem 9. Jahrhundert?" ferner in theologischen
Systemen der Scholastik wie in der Poesie des ernsten Dante und
des heitern Ariosto, bis sie endlich erst vor ein paar Jahren in
der Ruhmeshalle des preußischen Militärstaates im Berliner Zeug-
haus zum malerischen Ausdruck gelangte. Das ist die vielfach
getrübte, durch Jahrtausende fließende Quelle, woraus Thorvaldsen
seine Darstellung geschöpft hat.
Es wird dies am klarsten durch die Vergleichung mit der
reinsten künstlerischen Gestalt, welche die platonische Tugendlehre
durch die Hand Raphaels in der vatikanischen Stanza della Segnatura
erhielt. Im genauen Anschluß an die vollendete Tugendlehre des
platonischen Staates faßt Raphael die drei auf reale Kräfte der
Seele gegründeten Tugenden der Weisheit, Tapferkeit und Mäßigung
zu einer schöngegliederten Gruppe zusammen und ordnet sie als
viertes Wandgemälde neben die drei andern, die sog. Disputa,
den Parnaß und die Schule von Athen. Was jenes mit diesen drei
Wandgemälden verknüpft, ist die psychologische und historische
Thatsitchlichkeit, womit auf der ersten Wand das Wesen der
Theologie in individueller geschichtlicher Gestaltung der augusti-
nischen Patrologie und thoniistischen und mystischen Scholastik.
sodann auf der zweiten das Wesen der Poesie durch die historischen
Persönlichkeiten des Homer und Vergil, des Dante und Sannazaro.
und auf der dritten Wand das Wesen der Philosophie durch die
Sokratik des Sokrates, Platon und Aristoteles ausgedrückt wird.
Dagegen erhebt sich als Deckengemälde die reine ldealgestalt der
Gerechtigkeit über die reale psychische Grundlage der drei unter
ihr an der Wand gruppierten Tugenden. Auf Wolken thronend,
die Krone auf dem Haupt entscheidet sie den Rechtsstreit mit
elhobenem Schwert in der Rechten und mit der Waage in der
Linken. An ihrer Seite tragen Grenien die Tafelchen mit der
Inschrift: J us suum cuique tribuit, das Recht teilt jedem das Seinige
zu. Das ist die Formel, Worin das römische Recht das Wesen des
Rechtes zusammenfaßt, und das ist nur die Uebersetzuug der
Gedankenform, worin Platon das Wesen der Gerechtigkeit, der
Dikaiosyne ausspricht: 15a oafrcoö irpotrrecv, d. h. jede sittliche Kraft,
WVissen, Wollen und Begehren soll an ihrer Stelle das wirken,