hatte er die Entartung des Menschengeschlechts auf die Abkehr
des menschlichen vom göttlichen Willen zurückgeführt, ebenso er-
scheint in seinem plastischen Cyklus die Entartung des niediceischen
Geschlechts als eine Abkehr von der Naturordnung, und wenn er
diese im regelmäßigen Wechsel von Nacht und Tag, Abend und
Morgen darstellt, so ist sie auch nur ein Symbol der intellektuellen
und sittlichen Lebensordnung des menschlichen Geistes, wie in der
Sistina das EbenmaE; von Wissen und Wollen symbolisch durch
Auge und Hand des neubeseelten Adam ausgesprochen worden
war. Freilich jene Zeichen der Mienen- und Geberdensprache sind
die notwendigen Darstellungsmittel, wodurch die bildende Kunst
geistige Thätigkeiten und Zustände sichtbar erscheinen laßt
die eigentliche Kunstsprache. Michelangelos Tageszeiten aber sind
Allegorien, jedoch keine künstlichen logischen Abstraktionen,
sondern psychologische Allegorien, sie drücken wechselnde Stimm-
ungen und Gesinnungen aus, die der Mensch im Laufe des Tages
durchleben, und die künstlerische Geberden- und Mienensprache
ebenso darstellen kann, wie sie selbst ihren natürlichen Ausdruck
in den Geberden und Mienen der Menschen sich schaffen: sie sind
daher nicht künstliche, sondern künstlerische Allegorien.
Ein Sonett Michelangelos, das zuerst im Jahre 1863 in der
Ausgabe der Gedichte von Cesare Guasti veröffentlicht wurde, gibt
uns Aufschlufä über die Art, wie Michelangelo selbst die Tages-
zeiten allegorisch gedeutet hatß Der Dichter Michelangelo unter-
scheidet die Menschen nach ihren niedern und höhern Zwecken
der Kultur und nennt die auf materiellen Erwerb und Gewvinn
gerichteten Menschen Kinder des Tages, die andern aber, deren
Streben einsames Denken und Dichten ist, Söhne der Nacht. Mit
der allegorischen Gestalt der Nacht beginnt der Künstler Michel-
angelo seinen plastischen Cyklus. Sie stellt den tiefen mitter-
nächtlichen Schlaf dar. „Aber ob wohl jemals ein Mensch in solcher
Stellung habe schlafen können" diese Frage wirft kopfschüttelnd
„der Cicerone" Jakob Bnrckhardtsg auf. Und er hätte recht, wenn
hier der Schlaf des Leibes dargestellt wäre, aber dieser Schlaf ist
allegorisch kein Schlaf, sondern das Leben der Seele, das auch
im tiefsten Schlafe des Leibes ein leises Schweben, Heben und
Sinken der Traumvorstellungen und Gedanken ist, wie auch der