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Weit von Kunst dabei überhaupt die Rede sein
kann. Die Photographie hat die Lithographie,
die Radierung den Kupferstich aus dem Bildnis-
fach verdrängt und das Ölgemälde ernsthaft
eingeschränkt. In jeder grösseren Stadt leben
Dutzende von Photographen in so glänzenden
äusseren Umständen, wie sie der Bildnisradierer,
Jithograph oder -1naler und der Künstler über-
haupt nur sehr ausnahmsweise erreicht. Die un-
geheuren Summen, die unser Volk alljährlich für
Bildnisphotographien ausgiebt, Würden im Dienste
eines gebildeten Geschmackes genügen, eine
Blüte nationaler Kunst hervorzurufen.
Wenn dereinst eine spätere Zeit die zufällig
der Vernichtung entgehenden Bildnisphotogra-
phien unserer Zeit als Dokumente für unsere
künstlerische Gesinnung auslegen Wird, kommen
wir schlecht Weg. 1' Man Wird zu dem Schlusse
berechtigt sein, dass wir in künstlerischen Din-
gen ein feiges, fades Geschlecht gewesen seien,
mit dem Bedürfnis nach Pose, nach flauer, in-
haltloser Schönheit, ohne eine Spur von Empfin-
dung für Charakter. Man Wird uns die kühnen
Bildnisse der älteren Epochen gegenüberstellen
und nicht begreifen, dass ein Geschlecht so tief
sinken konnte, "wie Wir, wenn doch soviel ernste
und grosse Kunst schon in der Welt War. Die
Kunsthistoriker des einundzwanzigsten Jahrhun-
derts Werden ihren Schülern die Eigenschaften
der gemalten Bildnisse aus unserer dann so Weit
zurückliegenden Epoche zu erklären suchen, in-