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freier Anlehnung an alte Vorbilder, bei letzterem
mehr aus selbständigem Gefühl.
Aus der Perspektive kommender jahrhun-
derte dürfte das unsere in der Bildniskunst nur
in sehr vereinzelten Erscheinungen sich zur Höhe
der älteren Epochen erheben. In England, wo
die Kultur überhaupt von Erschütterungen und
Verschüttungen, die die Länder des Kontinents
betroffen haben, verschont geblieben, hat das
Bildnis ununterbrochen seinen Ehrenplatz be-
hauptet. Frankreich hat das Bildnis ebensowenig
vernachlässigt. Aufgegeben wurde es von der
grossen Kunst nur in Deutschland zu der Zeit,
als Cornelius und seine Schule herrschten. Und
noch heute hat es sich von dieser Vernach-
lässigung nicht erholt, denn die Pflege des Bild-
nisses im Staats- und Familienleben war unter-
bunden, und für den geringen Bedarf sorgte nur
ausnahmsweise ein grosser Künstler. Das Bild-
nismalen ist zur Spezialität geworden.
Dies kann nur da ohne Schaden für die
Kunst geschehen, wo der Bildnismaler monu-
mentale Aufgaben findet, wie Frans Hals in
seinen Regentenstücken. Wer nur Brustbilder
und höchstens Kniestücke zu malen hat, der
läuft Gefahr zu erstarren. Bei den Holländern
war das Bildnis unbedingt die führende Kunst-
gattung, und da wir im wesentlichen denselben
Boden unter den Füssen haben, so müsste es
diesen Rang auch bei uns einnehmen. Es müsste
in demselben Sinne ein künstlerisches Problem