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ikpoll, eine schöne Dame als Venus, eine vom Künstler verehrte
Frau als I:leilige, wovon sich bei alten italienischen und deutschen
Künstlern, u. a. bei llolbein, Beispiele finden.
Nun vermag die Gewöhnung sehr viel beizutragen, die Nach-
theile solcher Verletzungen zu mindern, und es kann desshalb
eine Zeit und ein Volk viel mehr davon vertragen, als ein andres.
Also ist die Frage gleich darauf zu stellen, wie weit die Gewöh-
nung gehen kann und gehen darf, um nicht selbst zur nachtheiligen
zu werden; und hierüber werden sich wohl manche allgemeine
(iesiehtspunete, aber keine lesten Gränzen aufstellen, und kaum
entscheiden lassen, ob das, was wir jetzt nach unsrer Gewöhnung
vertragen oder nicht vertragen, überall im Sinne der besstmög-
liehen Gewöhnung ist.
Gewiss ist, dass der Kunst durch solche Verletzungen
Leistungen möglich werden, womit sie die Natur weit überiliegt,
indem sie Beziehungen dadureh in gewisser Weise anschaulich zu
machen vermag, wofür uns die Natur selbst kein Mittel bietet, aber
es ist doch nur durch- eine gewaltsame Verletzung und Verläng-
nung der natürlichen, zeitlichen, räumlichen und persönlichen
Grundbedingungen der Existenz, welche trotz aller Gewöhnung
daran vom wirksamen Eindruck der Darstellungen immer etwas
abzieht, und, wo sie über gewisse Griinzen hinaus geht, sicher ins
Missfiillige aussehlägt. ,
Uebrigens hat man dabei zu unterscheiden. Wer in einem
Genrebilde, das in der Hauptsache darauf berechnet ist, durch na-
turwahre Charakteristik zu interessiren und zu wirken, grobe Ver-
letzungen "der Einheit von Zeit, Baum und Person begehen wollte,
würde die llauptwirkung selbst dadurch nothwendig stören und
zerstören; wo es dagegen mehr um symbolische Darstellung reli-
giöser Ideen zu thun ist, wird man verhältnissmässig weit in sol-
chen Verletzungen gehen dürfen, ohne der Wirkung erheblich zu
schaden; doch hat Alles seine Griinzen, die in allgemeinen Aus-
drücken lestzustecken, ich mir nicht getraue. Der Künstler
a") Nicht unwahrscheinlich kommen sogar in dem berühmten llolbeiir-
sehen MüdOllllßllblltlß beide Arten der Verletzung zugleich vor, indem man
in dem obern nackten Kinde das Christkind und ein krankes Kind der Stifter-
lanailie in Eins vertreten, in dem untern dasselbe Kind als gesund, was oben
krank (init kranken Aermizhen) dargestellt ist, sehen kann. Doch ist der
Streit über diese Deutungsverhältnisse bisher noch nicht ausgefochten.