Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 2)

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0b nicht Manches, was man für Sache der Kunstberechtigun g 
hält, nur Sache einer Kunstgewöhnung ist, die besser durch 
eine andere vertreten würde. Es frommt der allgemeinen Geistes- 
bildung nicht, den an sich berechtigten höheren Reiz , der in an- 
schaulicher Erfüllung der Wahrheitsfoderung liegt, dem Reize an 
sich schöner aber unwahrer Formgebung nachzusetzen; wer sich 
daran gewöhnt, büsst dadurch an Empfänglichkeit selbst fürjenen 
Reiz ein, und verliert im Ganzen mehr und Besseres als er durch 
die falsche Gewöhnung von andrer Seite gewinnt. Mit all dem 
aber bleibt folgender Gegenrücksicht Baum. 
Die Wabrheitsfoderung ist der Kunst mit der Wissenschaft ge- 
mein, aber für beide von verschiedenem Gewicht. In der Wissen- 
schaft ist ihre Erfüllung wesentlicher Zweck und um jeden Preis 
von ihr anzustreben, mag sie gefallen oder nicht gefallen; der 
Kunst ist sie nur ein Hauptmittel zum Zweck, was nie anders als 
nach untergeordneten Beziehungen andern Mitteln weichen sollte, 
doch wirklich nach solchen einer Uebermacht andrer weichen 
darf. Zuzugestehen ist, dass eine bestimmte Gränze in dieser 
Beziehung nicht festzustellen ist; man kann eben nur im Allge- 
meinen sagen, es muss dann geschehen, wenn Vortheile der Ver- 
letzung ihre Nachtheile überwiegen. Das kann sich für Verschic- 
denen Geschmack verschieden stellen, und gehört zu den Fällen, 
wo es nicht leicht oder möglich ist, über die grössere oder geringere 
Berechtigung des einen oder andern Geschmackes zu entscheiden. 
(Vgl. Th. i. S. 258.) ; indess man sich doch immer der dabei abzu- 
wägenden Gründe bewusst werden kann. Wiederholt werden wir 
bei unsern künftigen Betrachtungen hieran erinnert werden ; aber 
betrachten wir zunächst nur ein Beispiel. 
In der Pieta von Michel Angelo hält eine sitzende Madonna den 
Christus-Leichnam auf dem Schoosse liegend. ln der Pieta von 
Bielschel hat eine knieende Madonna den Ghristusleichnam gerade 
vor sich liegen. Beide Werke lassen sich im Leipziger Museum gut 
vergleichen, indem sie sich an den entgegengesetzten Enden des 
Saales gegenüberstehen. Beides sind Werke von grosser Schön- 
heit, jedes nur in anderem Sinne, worauf hier nicht ausführlich 
einzugehen, um nur folgenden Punct ins Auge zu fassen. Trotz 
dem, dass das Verhältniss des Christus zur Madonna in der Pieta 
von B. naturwahrer als in der von M. A. ist, wird man es doch in 
letzterem Werke entschieden schöner als in ersterem finden, indem
	        
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