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in der Gesammtheit der Richtungen zu erreichen; und wenn beide
Richtungen einander scheele Blicke zuzuwerfen pflegen, verdienen
es beide eigentlich nur dadurch, dass sie es thun.
Eine der einfachsten und allgemeinsten Regeln, die man dem
Künstler in Sachen unsrer Frage geben kann, ist die, dass er die
Wirklichkeit mit seinen Formen nur in so weit überschreite, als
er sie mit einer zur Darstellung berechtigten Idee überschreitet,
dass er aber auch jenes thue, sofern er dieses thut. So selbstver-
ständlich diese Ptegel scheint, indem es nur die Regel ist, Dar-
stellungs-Stolf und Form einander angemessen zu halten, giebt es
doch kaum eine Regel, die häufiger verletzt Wird, namentlich von
erster Seite. Denn nach dem missverstandenen Princip, dass die
Kunst Darstellung des Schönen sein solle, meinen viele Künstler,
die unschöne Natur verschönert wiedergeben zu müssen, ohne zu be-
denken, dass sie damit einen Widerspruch mit der Wahrheit herauf-
beschworen, der, rücksichtslos auf Schönheit oder Unschönheit des
Ge ge nstan d es, der Schönheit seiner Da rstellung Abbruch
thut. Nicht minder, nur von andrer Seite her, wird aber die
Wahrheit verletzt, wenn überwirkliche Gegenstände in Formen
gemeiner Wirklichkeit dargestellt werden. Im Sinne des ersten
Fehlers sahen wir Hildebrandt die Storchbeine verdicken und ver-
kürzen, und sehen wir in den meisten Bildern sog. grossen ja oft
selbst kleinen Stils gemeines Volk in schönen neuen Kleidern, mit
idealen Gesichtstypen und in möglichst anmuthigen Stellungen
dargestellt. Man nennt das wohl auch höhere Wahrheit, was viel-
mehr höhere Unwahrheit ist. Den zweiten Fehler doch meist mehr
aus Ungeschicklichkeit als Princip begangen, bieten manche
ältere Bilder dar, sofern Gott Vater, die Madonna, das Christkind
darin mit gemeinen, ja hässlichen Zügen erscheinen.
In erster Beziehung ist freilich ein Gonflict zu berücksichti-
gen. Die Lust aus directer Anschauung von Schönheit und Anmuth
dessen, was wir vor uns sehen, kann die Unlust aus dem Wider-
spruche, der in Verletzung der Wahrheitsfoderung liegt, über-
bieten, zumal wenn die Kunstgewöhnung solchen nicht mehr fühl-
bar macht; und in der That hat Kunstgewöhnung uns in dieser
Hinsicht viel vertragen gelehrt, fraglich ob nicht zu viel, und 0b
nicht eine künftige Kunstgewöhnung die jetzige in dieser Hin-
sicht rectiliciren wird. Man traue doch der jetzigen nicht gar zu
sehr, und sollte überhaupt mehr als es geschieht, überlegen,