Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 2)

als in der nie ganz scharfen Erinnerung die Abweichungen nicht 
spürbar werden. Aber im Gegentheil verkürzt er gerade dadurch 
den Vortheil, den das treue Gemälde bieten könnte, das in der 
Erinnerung undeutlich Gewordene deutlich herzustellen und auf- 
zubewahren. Ich sage nicht, dass Landschaften in jenem Sinne 
nicht gemalt werden sollen, insofern Kunstlandschaften überhaupt 
mehr bestimmt sind, uns schöne Gegenden zu schenken, als an 
wirkliche zu erinnern; insofern sie aber den Anspruch machen, Letz- 
teres zu thun, haben sie zum Zweck auch das Mittel zu wollen. 
Muss man nicht auch im sprachlichen Gebiete zugeben, dass 
uns der Inhalt einer Geschichte noch einmal so sehr interessirt, 
wenn wir wissen, so ist sie geschehen, als wenn wir wissen, so 
ist sie nicht geschehen; dass bei dem Lesen eines historischen Bo- 
manes ein störendes Gefühl der Ungewissheit mitgeht, wie viel 
wahr und wie viel nicht wahr sei; ja wohl manchen Roman, der 
sich den Anschein gab, eine wahre Geschichte zu sein, haben wir 
aus der Hand gelegt, so wie wir merkten oder erfuhren, er wolle 
uns nur tauschen. Dieses Interesse an der Wiedergabe der Wirk- 
lichkeit steigert sich nach Massgabe als sie uns näher selbst betraf. 
Nun kann ein Kunstwerk, wenn schon nicht allein auf diess Inter- 
esse speculiren, soll es den Namen eines Kunstwerkes verdienen, 
doch unter Umständen einen Theil seiner Wirkung ihm verdanken, 
hierauf allerdings mit speculiren. 
Kurz  die Aufbehaltung, Vergegenwärtigung, Wiedergabe 
dessen, was ins menschliche Leben an irgend einem Puncte be- 
deutungsvoll eingriff, die Befriedigung des Verlangens, das was 
uns durch seine Wirklichkeit interessirte, auch für die Erinnerung 
so wie es wirklich war, treu aufbehalten zu sehen, ist zwar nicht die 
alleinige, nicht allein zu berücksichtigende, noch höchste, aber in 
sofern mitzählende Aufgabe der Kunst, als die Wirkung vieler 
Leistungen der Kunst durch Mitbefriedigung dieses Interesses zur 
Höhe auch an Stärke gewinnen kann. 
Ganz abgesehen aber von dem so zu sagen stofllichen oder 
persönlichen Interesse, was jemand an dem Gegenstande einer 
Kunstdarstellung nehmen mag, macht es dem Menschen an sich 
ein eigenthümliches Vergnügen, die Natur durch freie Thätigkeit 
des Menschen treu wiedergespiegelt zu sehen, so dass das dadurch 
gewonnene Spiegelbild ein Interesse haben kann, wenn der Gegen-
	        
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