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dass uns die Kunst Erscheinungen mit andrer Bedeutung oder
andre Erscheinungen für gegebene Bedeutungen bietet, als wir
durch die Wirklichkeit ausserhalb der Kunst an einander zu
knüpfen gelernt haben, so, wenn eine würdige Menschengestalt
Gott, eine Taube den heiligen Geist, ein stilisirtes Pferd ein Pferd
bedeuten soll.
Die Nachthoile der Abweichungen erster Art liegen darin,
dass danach mit dem sinnlichen Eindrucke zugleich die An-
knüpfungspuncte für die Bedeutung dieses Eindruckes abge-
schwächt, verkürzt wiedergegeben werden, womit die Kraft und
Vollständigkeit des Eindruckes von zwei Seiten zugleich leidet.
Wenn ich ein Gesicht in Wirklichkeit vor mir sehe, so ver-
rathen mir nicht nur die bleibenden sondern auch die wechselnden
Züge desselben das Leben der Seele dahinter; das gemalte hat
blos bleibende dafür; und indess der Charakterausdruck einer Ge-
stalt vollständig nur in dem Verhältniss hervorlritt, in welchem
ihre Theile gegen einander vorspringen und zurücktreten, giebt
uns das gemalte Bild hievon nur einen abilachenden Schein. Die
Statue anderseits lässt die Farbe weg, in der doch so viel von Cha-
rakteristik und Schönheit der lebendigen Gestalt liegt.
Die Nachtheile der Abweichungen zweiter Art sind diese. Wir
kommen vom natürlichen Leben zur Kunst; aus jenem sind uns
die Bedeutungen der Dinge geläufig geworden, nicht aus dieser.
Indem nun die Kunst von der natürlichen Ausdrucksweise der Be-
deutungen oder natürlichen Bedeutung der Erscheinungen ab-
weicht, empfinden wir entweder einen Widerspruch zwischen der
gewollten Bedeutung und dem Ausdruck, der wie jeder Vorstel-
lungswiderspruch missfällt, oder es entsteht eine Schwäche oder
Unsicherheit des Eindruckes, oder wir knüpfen gar eine andre als
die vom Künstler gewollte Bedeutung an. Kurz wir sind über die
Bedeutung der Erscheinungen durch das natürliche Leben, die
Wirklichkeit orientirt, finden uns durch jede Abweichung davon
mehr oder weniger desorientirt und unterliegen den davon ab-
hängigen Nachtheilen.
Zu diesen Nachtheilen negativer Natur tritt noch der Verlust
positiver Vortheile, die unter Umständen durch die treue Wieder-
gabe zu erreichen wären.
An wie viele Gegenstände der Wirklichkeit knüpft sich doch
für uns ein lebendiges Interesse der Art, dass wir uns gern sei es