XXII. Ueber die Frage, wiefern die Kunst von der
Natur abzuweichen habe. Idealistische und realistische
Richtung.
Nach der, im vorigen Abschnitte behandelten, Streitfrage fas-
sen wir eine andre, zwischen Aesthetikern so wie Kunstkennern
und Künstlern viel verhandelte, an praktischer Wichtigkeit die
vorige weit übertreffende, Frage ins Auge, welche wie die vorige
von philosophischen Aesthetikern auf die gesammten Künste aus-
gedehnt wird, doch gleich der vorigen ihr Hauptinteresse in Bezug
auf die bildende Kunst hat. Also soll auch folgends unter Kunst
schlechthin nur die bildende Kunst, Malerei und Plastik, im Auge
gehalten werden , indess wir unter Natur die Wirklichkeit gegen-
über oder abgesehen von Kunst verstehen , woraus die Kunst ihre
Formen entlehnt ohne sich streng daran zu halten. Die Frage nun
ist: worin liegt der Gesiehtspunct ihrer Abweichungen davon und
wie weit dürfen sie gehen? Von vorn herein stellen sich doch die
bildenden Künste die Aufgabe, etwas von dem, was nicht Kunst
ist, abzubilden, warum bilden sie es nicht getreu ab"?
Bei der Musik und Architektur kann Niemandem so leicht eine ent-
sprechende Frage einfallen, weil es in diesen Künsten von vorn herein nicht
eben so darauf abgesehen ist, etwas ausserhalb der Musik und Architektur
schon Vorgegebenes abzubilden; wenn schon es Aesthetiker giebt, welche zu
Gunsten ihres allgemeinen Begriffes von Kunst diesen Künsten dieselbe Auf-
gabe als eine gleich fundamentale wie den bildenden Künsten zuerkennen
möchten. Nun begegnen sich freilich Musik und Architektur mit der Natur in
gewissen Beziehungen; eine lustige und traurige Musik hal etwas gemein mit
dem natürlichen Ausdrucke der Lustigkeit und Traurigkeit durch die Stimme,
und ein Haus muss so gut hohl sein wie eine Höhle. Aber nicht nur bilden
beide Künste die rohen Elemente, die sie von der Natur empfangen, sofort
ohne Anschluss an ein natürliches Vorbild um, den thierischen Laut der Em-
pfindung endlich bis zur Symphonie, die Höhle zum Palaste, sondern die
Musik tritt auch mit Melodie und Harmonie, die Architektur mit Gliederung
und Verzierung so ganz und so prineipiell aus dem Bereiche der natürlichen
Vorbilder heraus, dass es in der That den Eindruck der Geschraubtlieit
macht, für diese Künste den Gesichtspunct der Abbildliclikeit noch eben so
wie für die bildenden Künste fundamental festgehalten zu finden. Hiegegen
beschränkt sich die bildende Kunst von vorn herein und durch ihre ganze
Entwicklung der Hauptsache nach aufWiedergabe von gegebenen Formen; in
ihren höchsten Werken sieht man noch Menschen und Scenen zwischen
solchen abgebildet, nur nicht ganz so wie sie in Wirklichkeit vorkommen,