Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 2)

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folgt das kleinere, so wird er das, was demselben zum grösseren 
fehlt, so zu sagen von seinem Werthe selbst noch abziehen, und 
es kann sein, dass durch diesen Abzug das Gefühl des Werths 
selbst überboten wird, d. h. dass der Empfänger sich über die 
Verkleinerung des Geschenks mehr ärgert, als über das Geschenk 
selbst freut. 
Auf Reisen durch schöne Gegenden thut man allgemeinge- 
sprechen nicht wohl, die schönsten zuerst zu besuchen, indem 
jeder Zuwachs der Schönheit auf der Reise als Gewinn, jede Ab- 
nahme als Verlust empfunden wird; ja es kann geschehen, dass 
man nach dem Genusse, den man von vorn herein an den schönsten 
Gegenden gehabt, auf der übrigen Reise sich bei Gegenden lang- 
weilt, die man bei umgekehrter Anordnung der Reise mit wachsen- 
dem Genusse gesehn haben würde. Dabei ist allerdings gegenzu- 
ertragen, dass man zum stärksten Genusse nicht mehr mit frischer 
Empfänglichkeit gelangt, wenn man ihn bis zuletzt verschiebt, und, 
wo es überhaupt nur darauf ankommt, einen Genuss concentrirt 
in grösstmöglicher Stärke zu haben, wird man vielmehr mit dem- 
selben anfangen müssen, Weshalb man auch wohl die Regel giebt, 
beim Heransteigen zu einer schönen Aussicht sich nicht eher um- 
zukehren, als bis man zu dem günstigsten Puncte gelangt ist, wo- 
bei die Voraussicht auf diesen Gipfelpunct des Genusses uns über 
die Genussleere des Ansteigens hinweghelfen kann, indess das 
Wiederherabsteigen uns erschöpft findet und langweilt, so dass wir 
nur so bald als möglich wieder unten sein möchten. 
Insoweit wir nun überhaupt im Stande sind, den Lustreiz 
nach frischestem Genusse desselben mit andern heterogenen zu 
wechseln, die wir mit neuerFrische aufnehmen, kann die Regel, mit 
dem stärksten Genusse zugleich zu beginnen und aufzuhören, im 
Rechte sein; aber zumeist sind wir genöthigt, in demselben Kreise 
ästhetischer Einwirkungen mehr oder weniger zu verharren, und 
dann wird der Fortschritt im Sinne der Steigerung der Lust immer 
den Vorzug vor dem Fortschritte im Sinne der Minderung ver- 
dienen. 
Der genesende Kranke, der aus seiner Armuth sich heraus- 
helfende Arme kann noch sehr krank oder arm sein und hiemit 
den daran geknüpften Unluslbedingungen unterliegen; aber das 
ihn beständig begleitende Gefühl oder Bewusstsein, dass sein je- 
weiliger Zustand besser als der frühere ist, kann eine Lust mit-
	        
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