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Man hat gesagt, bei der Verbindung von Farbe und Gestalt
theile sich die Aufmerksamkeit und keins mache noch seinen Vollen
Eindruck. Mag man diess in gewisser Weise zugeben, so kann
das Product beider abgeschwächten Factorcn des Eindruckcs
doch grösser und bcdcutungsvoller sein, als wenn man jeden Factor
für sich hätte; auch jeden für sich aber wird es immer möglich
sein, auf sich wirken zu lassen, indem man Farbe oder Gestalt
absichtlich für sich ins Auge fasst und verfolgt. Hiezu hatja der
Mensch ein Abstractionsvermögen. Auch würden durch farbige
Statuen farblose ja nicht ausgeschlossen sein, wie durch Gemälde
Zeichnungen nicht ausgeschlossen sind, nur soll auch der umge-
kehrte Ausschluss nicht gelten.
Gewiss ist, dass uns die schönste Mädchengestalt darum nur
um so schöner scheint, dass sie Rosen auf den Wangen, Purpur
auf den Lippen und Lilien auf der Haut hat. Warum soll bei
Statuen nicht derselbe Vorlheil gelten. Und klagt man beim An-
blick des schönen Mädchens nicht über Zerstreuung der Aufmerk-
samkeit durch die Farbe, warum beim Anblick einer schönen
Statue.
Man hat gesagtäi), und schon früher (Th. I. S. M6) ist
dieses Einwandes gedacht worden, dass die Malerei an Statuen
der Phantasie keine ergänzende Beschäftigung übrig lasse. Ich
glaube aber auch früher genug dagegen gesagt zu haben. Je weniger
man der Phantasie zumuthet, ihre Kraft in Vervollständigung der
sinnlichen Unterlage zu verschwenden, einen um so freiern und
höhern Flug wird sie von der vollständig dargebotenen Unterlage
aus nehmen können. Ja bei manchen Statuen möchte sich eher
von einem Zuvie] als Zuwenig derPhantasieanregung durch die
Malerei fürchten lassen.
Nach Kirchmann (Lehrb. d. Aesth. II. 237. 258) soll der Um-
stand, dass der Künstler bei der Statue nauf die reine Farbe ohne
Schattirung beschränkt ista, hindern, das Incarnat der Haut dar-
zustellen. Die Schattirung entstehe nämlich durch die Körperlich-
keit der Statue vermöge der natürlichen Beleuchtung von selbst.
Aber warum wird die Erscheinung des Incarnats nicht beim natür-
lichen Gesichte durch denselben Umstand verhindert. Niemand
i)
Lehrb.
Lazarus in Eggers
d. Acsth. I. 478.
Kunstbl
4854.
und
Carriöre