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wäre die Kunst zugleich auf ihrem Gipfel und an ihrem Ende; sie
wird aber diess Ende schon deshalb nicht erreichen können, weil
die Natur, worin wir ja hier gegenüber der Kunst das ganze Leben
ausserhalb der Kunst mit verstehen, nie zu Ende kommt, sondern
sich fort und fort entwickelt; und wenn wir zugestehen müssen,
dass sich die Idealgestalten der griechischen und der BaphaePschen
Kunst nicht übertreffen lassen, ja verhältnissmässig nur geringe
Variationen gestatten, um nicht von dem darin erreichten Gipfel
Wieder abzusteigen, so werden sich doch eben diese Variationen
nur aus der Natur schöpfen lassen, und nur vermöge solcher Varia-
tionen die Kunst, die sich in solchen Idealgestalten bewegt, noch
Interesse behalten. Nun aber ist ja die Kunst nicht blos auf das
Gebiet von ldealgestalten beschränkt; zum Idealisiren giebt es auch
ein Gharakterisiren; und je tiefer die Kunst mit ihrer Aufgabe in
die realen Gebiete des Lebens hineingreift, desto mehr Stoff und
Form wird sie daraus ziehen können und zu ziehen haben; ja es
wird, wie ich früher (S. M8) andeutete, vielleicht eine Zeit kommen,
wo man die Idealität, die man in einzelnen Gestalten nicht höher
zu treiben weiss, als sie getrieben ist, doch im Eindruck dadurch
wird erhöhen können, dass man sie mehr auf den Gipfelpunct der
Darstellungen beschränkt, und von der Idealisirung der ihrer Idee
nach niedriger stehenden Figuren mit Vortheil für die Charakte-
ristik nachlässt.
Wie nun die Kunst aus der natürlichen Wirklichkeit heraus-
zuvvachsen, immer neue Triebkräfte aus ihr zu ziehen hat, so hat
sie auch möglichst allseitig in sie zurückzugreifen. Das kann sie
aber nur, wenn sie sich den natürlichen Interessen nicht entfrem-
det, sich vielmehr der Interessen der Welt, des Lebens, des Glau-
bens, die abgesehen von Kunst bestehen, als eigener Interessen
mit Liebe annimmt, statt blos eine gleichgültige Unterlage für ihre
Formgebung darin im Sinne so vieler Kunstenthusiasten zu sehen.
An Angriffspuncten dazu fehlt es nicht. Die Religion nimmt den
Pinsel und Meissel für Gegenstände der Andacht in ihren Tempeln,
die Geschichte zur Vorführung und Befestigung erhebender Bei-
spiele und Erinnerungen in öffentlichen Gebäuden und Hallen in
Anspruch. Die dankbare Anerkennung der Verdienste grosser
Männer will sich in Denkmalen aussprechen; die Paläste der Grossen
sich mit Bildwerken in grossem Stil und dieWohnungen derKleinen
mit solchen in kleinem Stil in Angemessenheit zu den Verhältnissen