Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 2)

verletzter oder abgeschwächter Charakteristik durch gegentheilige 
Vortheile zu überbieten vermag. Erstres ist einfach und evident, 
indess Letzteres zu mehr oder weniger zweifelhaften und für den 
Aesthetiker misslichen Abwägungen führt, die man sich freilich 
leicht erspart, wenn man ohne Weiteres entweder das, was in der 
Kunstwelt zur Zeit vorgezogen wird, oder was man nach seinem 
subjectiven Geschmack selbst vorzieht, für massgebend hält. 
Natürlich, wenn es für den Künstler gilt, Gott, einen idealen 
Christus, eine ideale Madonna darzustellen, so giebt es ausser con- 
ventionellen Symbolen, die nur eine Beihülfe und Nothhülfe, keine 
selbständige Leistung der Kunst sind, kein anderes Mittel dazu als 
Idealisirung menschlicher Persönlichkeiten im jetzigen Sinne. Zwar 
trifft der Künstler damit nicht das volle Wesen, reicht damit nicht 
an die erhabene Idee, die wir von diesen idealen Persönlichkeiten 
haben; aber indem der Künstler die ihm zu Gebote stehenden 
Mittel der Darstellung in der Richtung zusammenfasst und selbst 
steigert, in welcher die Natur selbst es thut, wenn sie sich aus- 
nahmsweise zu höhern und edlern Bildungen erhebt, thut er doch 
sein Möglichstes, und soll nicht absichtlich oder aus Unvermögen 
darunter bleiben, als Künstler nicht weniger leisten, als die 
Kunst in dieser Richtung leisten kann. Und so haben die 
Griechen bei Darstellung des Jupiter den Gesichtswinkel selbst 
über das, was bei Menschen vorkommt, hinaus übertrieben, weil 
mit der Grösse des Gesichtswinkels der Eindruck der geistigen 
Höhe zunimmt. 
Nun kann man freilich fragen, ob sich die Kunst überhaupt 
an Gegenstände, die mit grösstmöglicher Steigerung der Kunst- 
mittel doch nicht adäquat dargestellt werden können, wagen oder 
solche anders als durch conventionelle Symbole darstellen solle. 
Aber wäre selbst die Antwort zweifelhaft, so wagt es unsre Kunst 
jedenfalls, und insofern sie es thut, hat sie auch im angegebenen 
Sinne zu idealisiren; denn zum Zweck muss man die Mittel wollen. 
Betreffs der Frage selbst aber ist folgender Conflict zu erwä- 
gen. Wie hoch die Kunst in Idealisirung des Menschlichen gehen 
möge, so wie sie sich vermisst, das Göttliche damit darzustellen, 
zieht sie dasselbe herab und giebt leicht entweder dem Missgefühl 
Raum, dass in der Darstellung hinter der Aufgabe zurückgeblieben 
sei, oder dem vielleicht noch schwerern Nachtheil, dass die Auf- 
gabe für erfüllt gehalten und das Göttliche für nichts Höheres ge- 
Fechner, Vorschule d. Aesthetik. II. 3
	        
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