verletzter oder abgeschwächter Charakteristik durch gegentheilige
Vortheile zu überbieten vermag. Erstres ist einfach und evident,
indess Letzteres zu mehr oder weniger zweifelhaften und für den
Aesthetiker misslichen Abwägungen führt, die man sich freilich
leicht erspart, wenn man ohne Weiteres entweder das, was in der
Kunstwelt zur Zeit vorgezogen wird, oder was man nach seinem
subjectiven Geschmack selbst vorzieht, für massgebend hält.
Natürlich, wenn es für den Künstler gilt, Gott, einen idealen
Christus, eine ideale Madonna darzustellen, so giebt es ausser con-
ventionellen Symbolen, die nur eine Beihülfe und Nothhülfe, keine
selbständige Leistung der Kunst sind, kein anderes Mittel dazu als
Idealisirung menschlicher Persönlichkeiten im jetzigen Sinne. Zwar
trifft der Künstler damit nicht das volle Wesen, reicht damit nicht
an die erhabene Idee, die wir von diesen idealen Persönlichkeiten
haben; aber indem der Künstler die ihm zu Gebote stehenden
Mittel der Darstellung in der Richtung zusammenfasst und selbst
steigert, in welcher die Natur selbst es thut, wenn sie sich aus-
nahmsweise zu höhern und edlern Bildungen erhebt, thut er doch
sein Möglichstes, und soll nicht absichtlich oder aus Unvermögen
darunter bleiben, als Künstler nicht weniger leisten, als die
Kunst in dieser Richtung leisten kann. Und so haben die
Griechen bei Darstellung des Jupiter den Gesichtswinkel selbst
über das, was bei Menschen vorkommt, hinaus übertrieben, weil
mit der Grösse des Gesichtswinkels der Eindruck der geistigen
Höhe zunimmt.
Nun kann man freilich fragen, ob sich die Kunst überhaupt
an Gegenstände, die mit grösstmöglicher Steigerung der Kunst-
mittel doch nicht adäquat dargestellt werden können, wagen oder
solche anders als durch conventionelle Symbole darstellen solle.
Aber wäre selbst die Antwort zweifelhaft, so wagt es unsre Kunst
jedenfalls, und insofern sie es thut, hat sie auch im angegebenen
Sinne zu idealisiren; denn zum Zweck muss man die Mittel wollen.
Betreffs der Frage selbst aber ist folgender Conflict zu erwä-
gen. Wie hoch die Kunst in Idealisirung des Menschlichen gehen
möge, so wie sie sich vermisst, das Göttliche damit darzustellen,
zieht sie dasselbe herab und giebt leicht entweder dem Missgefühl
Raum, dass in der Darstellung hinter der Aufgabe zurückgeblieben
sei, oder dem vielleicht noch schwerern Nachtheil, dass die Auf-
gabe für erfüllt gehalten und das Göttliche für nichts Höheres ge-
Fechner, Vorschule d. Aesthetik. II. 3