Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 2)

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Nun kann man fragen: wie aber fängt der Maler es an, aus 
dem, was er als wirklich sieht, das Mögliche, was er nicht sieht, 
zu construiren. In so weit es ihm überhaupt möglich ist, wird es, 
denke ich, so sein. 
Täglich sehen wir die Züge des menschlichen Antlitzes mit 
dem Zustande der Seele wechseln; und so entwickelt sich allmä- 
lig in Jedem von uns ein Gefühl zugleich für die Bedeutung dieser 
Aenderungen und die Möglichkeit ihrer Auseinanderfolge, wonach 
wir denselben Menschen in seinen verschiedensten Gesichtsaus- 
drücken wiedererkennen, wenn das Gesicht nur nicht so gewaltsam 
verzerrt wird, dass es die Gränzen dessen überschreitet, woran 
sich unser Gefühl gebildet hat. Sind wir nun nicht selbst Künst- 
ler, so bildet sich diess Gefühl blos durch Anschauung receptiv 
aus, und bleibt auch nur reoeptiv, leitet uns nur in der Beur- 
theilung des Ausdrucks und seiner möglichen Uebergänge; bei 
dem Künstler aber, der es activ mit Stift und Pinsel in der Hand, 
viele Physiognomieen zeichnend und malend, ausgebildet hat, geht 
es auch so zu sagen activ in Führung des Stiftes und Piusels mit 
über, und es reicht für ihn hin, eine Physiognomie in einigen ihrer 
Wandlungen zu sehen, um eine andre, die unter andern Umstän- 
den zu sehen wäre, und die mehr verdiente aufbehalten zu wer- 
den, daraus zu machen. ' 
Wo es sich nicht wie beim Porträt darum handelt, eine be- 
stimmte Wirklichkeit wiederzugeben, sondern die Wirklichkeit nur 
das Motiv hergeben soll, Scenen oder Charaktere von allgemeinerer 
Bedeutung darzustellen, wird die Unterdrückung oder Veiwvischuiig 
individuellster Züge zu Gunsten dieser allgemeinen Bedeutung 
wohl am Platze sein können, und hiemit die Weise Rahls der Weise 
Vernets gegenüber sich vertreten lassen, nur nicht als die allein 
gültige vertreten lassen. Was in dieser Hinsicht zu sagen, will ich 
in einem besondern Abschnitte (XXlX.) in Anknüpfung an einen 
Ausspruch Bahls selbst ausführen. Aber wenden wir uns nun 
zum ldealisiren im zweiten Sinne, dem des lebendigen Sprach- 
gebrauches, und halten uns fortan an diesen. 
Nach den, schon im XXII. und XXIII. Abschnitt angestellten, 
Betrachtungen wird man ein Idealisiren in diesem Sinne in so weit 
zu f odern haben, als es durch Idealität der Gegenstände gefodert 
wird, und mithin zur Charakteristik derselben gehört; in so weit 
aber noch gelten zu lassen haben, als es Nachtheile. Seitens
	        
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