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das Idealisiren im ersten Sinne einfach mit dem Idealisiren im
jetzigen zweiten Sinne zusammenzuwerfen und zu verwechseln, wie
es wohl mitunter geschieht. So sagt Hegner in seinem nllans Hol-
beinc S. 2-18: nein Gesicht idealisiren, heisst dasselbe auf die
höchste Stufe seines Charakters setzen, oder mit Beibehaltung per-
sönlicher Aehnlichkeit in Zügen und Stellung veredelnai Natürlich
aber, wo der Charakter eines Menschen und mithin seines Gesichts
und seiner ausseren Darstellung überhaupt kein edler ist, kann er
es auch nicht dadurch werden, dass man ihn auf seine höchste
Stufe setzt; also hat man guten Grund, das Idealisirenjm ersten
und zweiten Sinne zu unterscheiden. Im ersten Sinne kann auch
das Ueble der NVirklichkeit durch die Kunst idealisirt, d. i. in rein-
ster Ausprägung wesentlicher Momente wiedergegeben werden;
im zweiten Sinne wird es durch die Kunst beseitigt. Eigen aber,
dass in den D efin i tion e n der Aesthctiket" fast nur der erste Sinn
des Idealisirens zur Geltung, im lebendigen Sprachge-
b rauche fast nur der zweite zur Anwendung kommt.
Mit Rücksicht hierauf meine ich, dass es nicht übel wäre, den
Schulgebrauch des Idealisirens im ersten Sinne überhaupt fallen
zu lassen, um hiemit zugleich die unklaren und unerfüllbaren Prä-
tensionen fallen zu lassen, welche der Gebrauch im ersten Sinne
mitzuführen pflegt, indess für das, was als richtige Kunstfoderung
davon festzuhalten ist, der minder leicht rnisszuverstehende und
derVerwirrung mit der zweiten Auffassung nicht eben so unter-
liegende Ausdruck einer möglichst reinen, klaren und trehenden
Charakteristik des Individuellen in individuellen, des Allgemeinen
in allgemeinen Zügen zu Gebote steht; denn was nicht damit zu-
sammentritft, ist eben nicht festzuhalten.
In der That hat man in Rücksicht zu ziehen, dass eine reine
Absonderung des Zufälligen vom NVesentIichen, was man dafür
ansehen mag, überhaupt nicht möglich ist, sondern dass das, was
von bleibender Bedeutung ist, überall mit zufälligWechselndem so
verwachsen ist, dass es sich gar nicht rein herausschälen lässt und
der Künstler also doch nur eine bestimmte Ausprägung des We-
sentlichen, Bedeutenden im Reiche des Zufälligen darstellen kann,
ohne es darüber hinwegheben zu können. Freilich begegnet man
nicht selten Phrasen und Auseinandersetzungen namentlich bezüg-
lich der Portraitmalerei, als wenn der Künstler aus allen Momenten
des Daseins eines Individuum so zu sagen ein essentiales Extract