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schiedene Theile des Körpers, die sich gegen einander bewegen
können , statt in einfacher Fortsetzung von einander oder parallel
mit einander, vielmehr in irgend einer Winkelstellung gegen einan-
der dargestellt werden. Nur dass auch hier die beschränkende
Rücksicht bestehen bleibt, dass alle Verschiedenheit durch ein ein-
heitliches psychisches Motiv gebunden erscheinen und dieses sich
der allgemeinen Idee des Kunstwerkes, in welches die Figur ein-
geht, unterordnen muss. Jedes Zuviel aber wird eben so durch
den Widerspruch mit der sachlichen Angemessenheit oder den
Foderungen der Idee wie dadurch verboten, dass es ins Eckige,
Schroffe, und dadurch von andrer Seite ins Stilwidrige hineinge-
rath (vgl. TI1. I. S. 61).
Bei selbständiger Darstellung einzelner Figuren wie im Por-
trait oder in der Plastik macht sich natürlich diese Stilregel mit
noch grösserem Nachdrucke geltend als in zusammengesetzten
Gruppen; und welche plastische Figur man ansehen will, man
wird die Sorgfalt bemerken können, mit welcher die Künstler ver-
meiden, wider diese Stilregel zu sündigen. Zwar hat man, wenig-
stens nach den altägyptischen Figuren zu schliessen, mit der Sünde
dagegen begonnen, hat aber auch an dem Eindrucke derselben das
augenfälligste Beispiel von dem daran hängenden Nachtheile. Bei
den klassischen Figuren selbst von ruhigster Haltung ist hiegegen
kein Gelenk ganz müssig.
Wieder freilich hält diese Stilregel wie jede gegen überwie-
gende Foderungen der Idee nicht Stich. In dem Baphaelschen
'l'apetenbilde, der Predigt von Paulus, steht Paulus so zu sagen
wie ein starrer Wegweiser mit rechtwinklig ausgestreckten paral-
Ielen Armen da; also zum Theil mit Weniger Bewegung, zum Theil
mit gleichartigerer Bewegung, zum Theil mit schroüerer Bewegung,
als der allgemeinen Stilregel entspricht. Aber er soll auch wie ein
Wegweiser dastehen, der ganz darin aufgeht, die eine Richtung zu
zeigen, die zu gehen Allen noth thut; gegen die Macht dieser Idee
hält keine äussere Stilregel Stich. Doch würde man nicht wagen,
Paulus als Einzelfigur so darzustellen, weil abgesehen vom fehlen-
den Motiv dazu die Stilrücksicht sich hier mit verhältnissmäissig
grösserem Gewichte geltend machen würde.
Leonardo da Yinci in s. höchst nützlichen 'I'ractat von der Malerei 4747.
Nürnberg. p. 6. 44. Observat. giebt. folgende Regeln. nNehmet in Acht, dass
in eueren Figuren der Kopf niemals auf die Seite stehe, wo sich die Brust