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Wenn es grössere Versammlungen oder Aufzüge von vielen
Personen darzustellen gilt, so ist unserm Stilprincip freilich in
gewisser Hinsicht der grösste Spielraum geboten und erscheint die
Federung desselben am dringendsten, um der Monotonie zu ent-
gehen. Nun aber sieht man doch bei wirklichen Versammlungen
und Aufzügen vielmehr die Hauptmasse der Betheiligten in gleichem
Sinne gestimmt, gewandt, gestellt, und erhält nur dadurch den
kraftvollen Eindruck eines Alle einigenden Anlasses und einer ein-
heitlichen Massenwirkung. Will der Künstler hier die stilistische
Rücksicht der Vermannichfachung unbeschränkt walten lassen, so
wird er diesen Eindruck, um den es ihm aus höherem Gesichtspuncte
als dem der äusseren Stilrücksicht zu thun sein muss, zerstören;
es würde der Eindruck eines zerfahrenen Wesens daraus entstehen;
also gilt es gerade hier eine sehr massvolle Anwendung unseres
Stilprincipes. Doch findet man nicht selten der unrecht ange-
wandten Stilrücksicht in dieser Hinsieht den Sinn geopfert; und
noch kürzlich sahe ich in einem übrigens ganz interessanten Bilde,
was einen Leichenzug von Mönchen darstellte, den Ausdruck der
Mienen und dieWendung der Köpfe so variirt, dass über dieser
malerischen Mannichfaltigkeit der einheitliche Zug des Zuges ganz
verloren gieng, und es aussahe, als hätte jeder eine andere Art
Trauermedicin eingenommen.
Wo sich der Künstler so zu sagen eine Güte in Anwendung
des Principes thun kann, und auch nicht verfehlt es zu thun, ist
die Darstellung eines Kampfgewühles; weil die ausgiebigste Be-
nutzung des Prineipes hier ganz in den Sinn der Aufgabe hinein-
tritt; nur trägt die Aufgabe, ein Gewühl darzustellen, selbst
schon den Charakter der Zerfahrenheit und wird man sich nicht
leicht von der Darstellung recht erbaut finden, wenn nicht wenig-
stens eine Hauptscene des Kampfes die Aufmerksamkeit zu cen-
triren vermag.
Manche Bilder giebt es, die in der äusserlichen mechanischen
Durchführung unsers Stilprincipes so zu sagen aufgehen, und doch
mit einer Zuthat hübscher oder gerührter Gesichter ohne andere
Vorzüge noch einen Effekt beim grossen Publicum machen, wozu
ein erläuterndes Beispiel in Mises kl. Sehr. S. 4523 besprochen ist.
Nicht minder als zwischen verschiedenen Figuren eines Bil-
des macht sich das stilistische Princip der lllannichfaltigkeit bei
jeder einzelnen geltend. So ist es im Sinne desselben, dass ver-