Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 1)

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Es kann aber ein Geschmack, der für bestehende Verhältnisse 
gerechtfertigt ist, insofern als er das diesen Verhältnissen Ange- 
messenste federt, doch höhern Geschmacksfoderungen insofern 
widersprechen, als diese Verhältnisse selbst nicht gerechtfertigt 
sind, und ein oft schwer zu entscheidender Conflict statt finden, 
wiefern die näheren und hiedurch dringenderen oder die höheren 
allgemeineren Foderungen des Geschmackes zu befriedigen sind. 
Jedenfalls bleibt über allen, nach Zeit, Ort und besondern 
Umständen wechselnden, Foderungen die oberste Federung des 
guten Geschmackes in Kraft, nichts zuzulassen, was den allge- 
meinslen Principien des menschlichen Gedeihens widerspricht, 
hiemit nichts, was der körperlichen und geistigen Gesundheit, der 
Religiosität, Sittlichkeit, logischen Widerspruchslosigkeit wider- 
spricht. "Und hienach kann es der Fall sein, dass der Geschmack 
ganzer Zeiten oder Nationen nach dieser oder jener Hinsicht für 
schlecht zu erklären ist; und die Allgemeinheit eines Geschmackes 
in einer Zeit oder Nation verbürgt noch nicht seine Güte. 
Man kann diess z. B. vom Geschmacke der Orientalen am 
Bilderschwulsb in der Poesie sagen. Unstreitig hedürfte es nur 
andrer erziehender Einflüsse, um das, was in dieser Beziehung 
bei ihnen Mass und Sinn üherwuchert, reich und doch schön 
wachsen zu lassen. 
Weiter aber kann es auch der Fall sein, dass nicht nur die 
Verhältnisse, unter denen ein Volk lebt, berechtigte sind, sondern 
auch der Geschmack für diese Verhältnisse ein ganz berechtigter 
ist, ja niehtbesser dafür sein könnte; und dass doch derGeschmack 
dieses Volkes aus gewissem Gesichtspuncte niedriger zu schätzen 
ist als der Geschmack eines andern Volkes, sei es, dass er weniger 
die Möglichkeit gewährt, das ästhetische Gefühl unmittelbar zu 
befriedigen, sei es, dass die gleich berechtigten Verhältnisse, 
denen sich der Geschmack beiderseits anpasst, doch nicht gleich 
werthvoll sind; jeder Geschmack aber ist nur im Zusammenhange 
mit den Verhältnissen, unter denen er besteht, zu beurtheilen. 
S0 wird sich zwar den Einwohnern Bencoolens die Berech- 
tigung, in Bencoolen zu leben und ihren Baugeschmack den Ver- 
hältnissen Bencoolens anzupassen, so wenig bestreiten lassen, als 
den Griechen in Griechenland zu leben und nach den Verhält- 
nissen ihres Landes einzurichten; esllässt sich aber doch denken; 
dass der griechische Baugeschmack nicht nur eine grössere Mög-
	        
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