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unsere Begriffe haben sich nicht so ausgebildet, und so konnte
es auch nicht die Sprache.
Unter a bg e s ch m a ckt versteht man den höchsten oder einen
ganz offenkundigen Grad des Geschmacklosen, etwas, was von
einem richtigen Geschmack ganz abfällt.
Streit des Geschmackes.
Es ist eine alte Bede, dass sich über den Geschnxack nicht
streiten lässt; indess streitet man doch darüber, ja über nichts
mehr als über den Geschmack; es muss sich also doch darüber
streiten lassen. Und nicht blos Einzelne streiten darüber, auch
Nationen und Zeiten, oder wenn sie nicht darüber streiten, weil
sie zu entlegen von einander sind, streiten doch die Richtungen
ihres Geschmackes unter einander, indem sie gewöhnlich eben so
abweichend von einander, als die Nationen und Zeiten entlegen
von einander sind, Aber auch die einander in Zeit und Raum,
wissenschaftlichen und religiösen Ansichten nahe stehen, die bess-
ten Freunde sonst in allen Dingen, pflegen doch noch über den
Geschmack zu streiten. Und die Aesthetiker und Kunstrichter,
die den Streit zu entscheiden hatten, streiten am meisten darüber,
jndem sie auch über die Gesichtspuncte und Gründe der Entschei-
dung streiten.
Fassen wir nun vorAllem einige besonders auffällige Beispiele
streitenden Geschmackes rein thatsächlich ins Auge, theils um eine
Ansicht von der Grösse der vorkommenden Geschmacksverschie-
denheiten zu erwecken, theils Anknüpfungspuncte für spätere
Erörterungen darin zu finden. Und zwar. zuerst ein Beispiel
aus dem Gebiete der Mode, einem Gebiete, welches zweifeln
lassen könnte, dass der Geschmack sich überhaupt Regeln und
Gesetzen fügt. Denn obwohl er sich selber in jeder neuen Mode
eine neue Regel giebt, ist es doch nur, um der alten zu spotten
und dem Spotte der spätern zu verfallen.
Wohl als das Geschmackloseste, was es giebt, erscheint uns
jetzt eine Perücke und deren etwas spätere Vertreter, Puder,
Zopf, Haarbeutel, die den Kopf selbst zu einer Art Perücke mach-
ten. Wie ganz anders aber stellte sich eine noch nicht zu lange
vergangene Zeit dazu. Ich selbst habe noch alte Leute erzählen
hören, welchen Eindruck der Armseligkeit, Unkultur, ja Bohheit