Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 1)

215 
Bemerken wir hiegegen: allerdings kann einem Theile eines 
Bauwerkes eine grössere Selbständigkeit zukommen als einem 
andern, sofern er nämlich einen grösseren Beitrag zur Erfüllung 
der ganzen Bestimmung des Gebäudes giebt; er erscheint dann 
mehr als ein Theil, der andre von sich abhängig hat, als dass er 
selbst von andern abhängig schiene. Fesselt nun ein solcher Theil 
das Auge mehr, so verdient er auch es mehr zu fesseln, und 
es wird keine Gefahr entstehen, dass der Eindruck des Ganzen 
darunter leide, da er vielmehr gerade dadurch in rechter -Weise 
zu Stande kommt, dass jeder Theil nach Massgabe seiner Bedeu- 
tung für das Ganze auch sich in der Anschauung geltend macht. 
Hienach aber darf die Säule am griechischen Tempel in der That 
das Auge mehr auf sich ziehen und fesseln, als der Pfeiler im 
gothischen Gebäude, Weil sie nach dem Angeführten wirklich eine 
grössere Selbständigkeit hat, und so mögen selbst Verzierungen 
beitragen, diese Bedeutung der Säule um so mehr hervorzuheben. 
Nicht blos in Betreff der Stellung aber, sondern auch der 
Hauptform der Säulen gehen Schönheit und Zweckmässigkeit Hand 
in Hand. Warum ist die Säule unten dicker als oben? weil diess 
ihrer Stabilität zu Statten kommt. Warum schwillt sie gegen 
die Mitte etwas an? weil sie an dieser Stelle am leichtesten geneigt 
ist zu brechen und eine Verstärkung dieser Stelle Schutz dagegen 
gewährt. Eine Tänzerin mag auf einer Fussspitze schweben; 
hier mag die Verjüngung nach Unten eben so schön sein als bei 
der Säule die Verjüngung nach Oben; aber die Tänzerin soll sich 
bewegen und die Herrschaft der Seele und Lebenskraft über die 
Schwere zeigen; die Säule soll stehen und tragen, und die voll- 
kommene Unterordnung unter die Gesetze der Schwere und Halt- 
barkeit des Materials zeigen.  
Für den ersten Anblick zwar kann man es auffallend finden, 
dass Stuhl- und Tischbeine, die doch so gut als Säulen eine Last 
zu tragen haben, gerade nach dem entgegengesetzten Princip ge- 
formt sind. Statt sich nach Oben zu verjüngen, verjüngen sie 
sich nach Unten, und während jede erhebliche Schiefstellung oder 
gar Krümmung einer Säule zu vermeiden ist, lieben es Stuhl- und 
Tischbeine, namentlich erstre, sich etwas nach Aussen zu richten 
oder gar unten nach Aussen zu biegen. Mit all' dem erscheinen 
sie nicht nur nicht ungefällig, sondern federn diese Verhältnisse 
zur Wohlgefälligkeit. Muss nicht doch hier Schnaasds Betrach-
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.