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Bemerken wir hiegegen: allerdings kann einem Theile eines
Bauwerkes eine grössere Selbständigkeit zukommen als einem
andern, sofern er nämlich einen grösseren Beitrag zur Erfüllung
der ganzen Bestimmung des Gebäudes giebt; er erscheint dann
mehr als ein Theil, der andre von sich abhängig hat, als dass er
selbst von andern abhängig schiene. Fesselt nun ein solcher Theil
das Auge mehr, so verdient er auch es mehr zu fesseln, und
es wird keine Gefahr entstehen, dass der Eindruck des Ganzen
darunter leide, da er vielmehr gerade dadurch in rechter -Weise
zu Stande kommt, dass jeder Theil nach Massgabe seiner Bedeu-
tung für das Ganze auch sich in der Anschauung geltend macht.
Hienach aber darf die Säule am griechischen Tempel in der That
das Auge mehr auf sich ziehen und fesseln, als der Pfeiler im
gothischen Gebäude, Weil sie nach dem Angeführten wirklich eine
grössere Selbständigkeit hat, und so mögen selbst Verzierungen
beitragen, diese Bedeutung der Säule um so mehr hervorzuheben.
Nicht blos in Betreff der Stellung aber, sondern auch der
Hauptform der Säulen gehen Schönheit und Zweckmässigkeit Hand
in Hand. Warum ist die Säule unten dicker als oben? weil diess
ihrer Stabilität zu Statten kommt. Warum schwillt sie gegen
die Mitte etwas an? weil sie an dieser Stelle am leichtesten geneigt
ist zu brechen und eine Verstärkung dieser Stelle Schutz dagegen
gewährt. Eine Tänzerin mag auf einer Fussspitze schweben;
hier mag die Verjüngung nach Unten eben so schön sein als bei
der Säule die Verjüngung nach Oben; aber die Tänzerin soll sich
bewegen und die Herrschaft der Seele und Lebenskraft über die
Schwere zeigen; die Säule soll stehen und tragen, und die voll-
kommene Unterordnung unter die Gesetze der Schwere und Halt-
barkeit des Materials zeigen.
Für den ersten Anblick zwar kann man es auffallend finden,
dass Stuhl- und Tischbeine, die doch so gut als Säulen eine Last
zu tragen haben, gerade nach dem entgegengesetzten Princip ge-
formt sind. Statt sich nach Oben zu verjüngen, verjüngen sie
sich nach Unten, und während jede erhebliche Schiefstellung oder
gar Krümmung einer Säule zu vermeiden ist, lieben es Stuhl- und
Tischbeine, namentlich erstre, sich etwas nach Aussen zu richten
oder gar unten nach Aussen zu biegen. Mit all' dem erscheinen
sie nicht nur nicht ungefällig, sondern federn diese Verhältnisse
zur Wohlgefälligkeit. Muss nicht doch hier Schnaasds Betrach-