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kcit und besehränktere Wichtigkeit direct wohlgefalliger Formen
und Verhältnisse in der bildenden Kunst als in Poesie und Musik,
aber keine versehwindende, da noch unzählige Fälle übrig blei-
ben, wo statt Widerspruches zwischen dem directen und associa-
tiven Factor der Wohlgefalligkeit sei es volle oder partielle Ein-
stimmung zwischen beiden besteht, in deren Gränzen die Schönheit
durch die Wohlgefälligkeit des ersten gesteigert werden kann; ja
es gehört zu den Foderungen eines sog. guten Stiles (wenn schon
er nicht allein darauf beruht), die direet wohlgefälligern Formen
und Verhältnisse den minder wohlgefälligen vorzuziehen, so weit
es sieh mit der Angemessenheit zum Sinne verträgt; auch wenn
die Angemessenheit zum Sinne dieselben nicht wesentlich fo der t.
S0 sieht man in der sixtinischen und Holbeinschcn Madonna,
dem Leonardoschen Abendmahle und unzähligen andern Bildern
der religiösen Kunst die Symmetrie in der Ilauptanordnung so
weit durchgeführt, als es sich mit dem Sinne derDarstellung einer
lebendigen Scene verträgt, ohne dadurch wesentlich gefodert zu sein,
und man würde einen Nachlass daran in einem beträchtlichen Ver-
luste an Wohlgefälligkeit spüren. Und selbst in Landschaften und
Genrebildern, wo eine so weit gehende Durchführung der Sym-
metrie dem Sinne widersprechen würde, achten doch die Maler
auf eine gewisse Abwägung der Massen der Art, dass nicht der
Hauptinhalt zu sehr auf eine Seite falle, ohne dass diess durch
eine Rücksicht auf den Sinn an sich bedingt wäre.
Interessant war mir eine auffällige Verletzung dieser Regel in einer
Grablegung von Tizian (in der Gallerie zu Verona), worin säimmtliche Figuren
sich zu einem Knäuel auf der linken Seite des Bildes (bez. des Beobachters)
zusammengeballt finden, der sich nach der rechten, fast leeren Seite zuspitzt;
diess macht einen sehr unangenehmen Eindruck.
Man kann einen gewissen Widerspruch darin finden, dass schon eine
geringe Abweichung von der Symmetrie an einem Rechtecke uns missfälll,
während die Annäherung an eine symmetrische Anordnung in einem reli-
giösen Bilde uns wohl gefällt, die doch im Grunde eine viel grössere Abwei-
chung von der Symmetrie als jene uns an dem Rechteck missfalligc ist. Aber
es kommt hiebei in Betracht, dass wir beim nicht ganz symmetrischen Recht-
eck den Vergleich mit der vollen Symmetrie ziehen, bei dem nicht ganz sym-
metrischen religiösen Bilde vielmehr mit der ganz fehlenden Symmetrie der
Bilder; wonach uns nur jenes als Abweichung von Symmetrie, dieses als An-
näherung an Symmetrie, jenes ein Fehler, dieses ein Gewinn scheint, der
freilich da zu nichte wird, wo die Annäherung der Angemessenheit wider-
spricht.