Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 1)

184 
kcit und besehränktere Wichtigkeit direct wohlgefalliger Formen 
und Verhältnisse in der bildenden Kunst als in Poesie und Musik, 
aber keine versehwindende, da noch unzählige Fälle übrig blei- 
ben, wo statt Widerspruches zwischen dem directen und associa- 
tiven Factor der Wohlgefalligkeit sei es volle oder partielle Ein- 
stimmung zwischen beiden besteht, in deren Gränzen die Schönheit 
durch die Wohlgefälligkeit des ersten gesteigert werden kann; ja 
es gehört zu den Foderungen eines sog. guten Stiles (wenn schon 
er nicht allein darauf beruht), die direet wohlgefälligern Formen 
und Verhältnisse den minder wohlgefälligen vorzuziehen, so weit 
es sieh mit der Angemessenheit zum Sinne verträgt; auch wenn 
die Angemessenheit zum Sinne dieselben nicht wesentlich fo der t. 
S0 sieht man in der sixtinischen und Holbeinschcn Madonna, 
dem Leonardoschen Abendmahle und unzähligen andern Bildern 
der religiösen Kunst die Symmetrie in der Ilauptanordnung so 
weit durchgeführt, als es sich mit dem Sinne derDarstellung einer 
lebendigen Scene verträgt, ohne dadurch wesentlich gefodert zu sein, 
und man würde einen Nachlass daran in einem beträchtlichen Ver- 
luste an Wohlgefälligkeit spüren. Und selbst in Landschaften und 
Genrebildern, wo eine so weit gehende Durchführung der Sym- 
metrie dem Sinne widersprechen würde, achten doch die Maler 
auf eine gewisse Abwägung der Massen der Art, dass nicht der 
Hauptinhalt zu sehr auf eine Seite falle, ohne dass diess durch 
eine Rücksicht auf den Sinn an sich bedingt wäre. 
Interessant war mir eine auffällige Verletzung dieser Regel in einer 
Grablegung von Tizian (in der Gallerie zu Verona), worin säimmtliche Figuren 
sich zu einem Knäuel auf der linken Seite des Bildes (bez. des Beobachters) 
zusammengeballt finden, der sich nach der rechten, fast leeren Seite zuspitzt; 
diess macht einen sehr unangenehmen Eindruck. 
Man kann einen gewissen Widerspruch darin finden, dass schon eine 
geringe Abweichung von der Symmetrie an einem Rechtecke uns missfälll, 
während die Annäherung an eine symmetrische Anordnung in einem reli- 
giösen Bilde uns wohl gefällt, die doch im Grunde eine viel grössere Abwei- 
chung von der Symmetrie als jene uns an dem Rechteck missfalligc ist. Aber 
es kommt hiebei in Betracht, dass wir beim nicht ganz symmetrischen Recht- 
eck den Vergleich mit der vollen Symmetrie ziehen, bei dem nicht ganz sym- 
metrischen religiösen Bilde vielmehr mit der ganz fehlenden Symmetrie der 
Bilder; wonach uns nur jenes als Abweichung von Symmetrie, dieses als An- 
näherung an Symmetrie, jenes ein Fehler, dieses ein Gewinn scheint, der 
freilich da zu nichte wird, wo die Annäherung der Angemessenheit wider- 
spricht.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.