Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 1)

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übrig lasse, werde durch das zugefügte Bild ergänzt, und umge- 
kehrt; nichts bleibe also für die Phantasie; daher sei es besser, 
beide zu trennen als zu verbinden. Zahlt doch diess Princip auch 
unter den mancherlei Verwerfungsgründen gemalter Statuen mit. 
Und gewiss, wenn diese aus diesem Grunde verwerflich sind, ist 
es jede Illustration aus demselben Grunde. Aber auf eine so gute 
Autorität sich diess Princip zu berufen hat, halte ich es doch für 
fundamental untriftig. Vielmehr je mehr von Bestimmtheiten des 
darzustellenden Gegenstandes der Künstler der Phantasie vorweg 
nimmt, desto mehr Anlässe giebt er ihr damit, darüber hinauszu- 
gehen. Denn man meine doch nicht, dass der Künstler mit Allem, 
was er zu geben vermag, die Flügel der Phantasie binden und 
ihren Spielraum verengern kann; dazu müsste er die ganze Welt, 
die diesen Spielraum bildet, vorweg nehmen und selbst geben 
können. Von jedem Stück aber, was er giebt, steht ihr ein weie 
terer Ausflug frei; je grösser der Umkreis dessen ist, was er giebt, 
von desto mehrAnsatzpunoten aus kann sie weiter fliegen, und desto 
weniger findet sie sich dadurch aufgehalten, solche erst zu suchen. 
Also scheint mir auch Lessings Ansicht, wovon die obige Regel 
den Ausgang genommen, dass ein Alfect nicht in seinem Gipfel-. 
puncte von der bildenden Kunst dargestellt werden müsse, um 
der Phantasie noch eine Ergänzung zu lassen, nicht triftig. 
Wenn ein schreiender Laocoon uns missfallen Würde, ist es 
in der That nicht, weil der Phantasie darüber hinaus nichts mehr 
übrig bliebe, sondern weil ein vor Schmerz sehreiender Mann uns 
überhaupt missfällt. Entsprechend mit den sonst von Lessing gel- 
tend gemachten Beispielen, der ihre Kinder mordenden Medea und 
dem rasenden Ajax. Ueherhaupt nlissfäillt uns jeder gegipfelte 
Ausdruck eines physischen Schmerzes wie einer widrigen Leiden- 
schaft, nun gar der Raserei. Der vollste Ausdruck eines edlen 
Schmerzes, einer edlen Liebe, Freude, Begeisterung, wird uns 
hingegen nie missfallen, vielmehr um so mehr gefallen, je mehr 
wir uns sagen: unsre Phantasie vermag nichts darüber; die Phan- 
tasie hat deeh das darüber, dass sie sich die ganzen Motive, Felgen, 
Zusammenhänge des Geschiekes, was den Ausdruck hervorrief, 
noch ausmalen, in die ganze Tragweite desselben vertiefen kann; 
und dazu wird sie sich um so stärker angeregt finden, je mehr sie 
den Ausdruck im prägnantesten Momente auf seiner höchsten Staffel 
dargestellt findet.   
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