Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 1)

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der einzelnen Gestalten schliesst sich zu einem harmonischen Gan- 
zen zusammeim 
Gegen diesen Schwung der Betrachtung hat nun freilich un- 
sere Betrachtung von Unten nichts Entsprechendes einzusetzen. 
Nehmen wir die folgende so simpel, wie sie sich giebt. 
Dem Auge des Blindgeborenen, der nach glücklicher Operation 
das erste Mal inys Freie sieht, erscheint die ganze Natur nur erst 
als ein marmorirtes Blatt, denn er vermag noch nicht, in dem Ge- 
sehenen dessen Bedeutung mit zu sehen. Er sieht hinein in's 
Weite: da sind Wiesen, Felder, Wälder, Berge, Seen; er sieht 
nichts von Wiesen, Feldern, Wäldern, Bergen, Seen; er sieht nur 
grüne, gelbe, helle, dunkle Flecke. Nur das Gefühl des weittra- 
genden Blickes, der sinnliche oder wenig über den sinnlichen hin- 
aufsteigende Reiz des Hellen und Dunklen , des Farbencontrastes, 
der Mannichfaltigkeit, des Wechsels bestimmen den Eindruck, den 
er von der Landschaft hat. Aber ist das auch Alles, was wir von 
der Landschaft haben? Wir haben das Alles auch, es trägt bei zu 
dem Eindrücke, den die Landschaft auf uns macht, der Stimmung, 
die sie uns erweckt, sogar nicht wenig dazu bei; aber wir sehen 
zugleich im fernen Walde, der für das unerfahrene Auge nur ein 
grüner Fleck ist, etwas, was lebendig in sich treibt und wachst, 
was Schatten, Kühlung giebt, worin der Hase, das Reh laufen, 
der Jäger geht, die Vögel singen, manch' Märchen spukt; auch 
wenn wir nichts wirklich davon sehen und hören. Im See, worin 
Jener nur einen blanken oder blauen Fleck erkennt, wissen wir, 
gehen die Wellen, spiegelt sich der Himmel, spielen die Fische, 
fahren die Schiffe u. s. w. Vorstellungen von Allem, was sonst 
treibt und wächst und wogt, klingen mit dabei an. Im Grunde 
sehen auch wir mit leiblichem Auge von Wald und See nicht mehr 
als der frisch operirte i inde und das neugeborene Kind, das ist 
grüne und blanke Flecke; Alles aber, was wir je von 
Wald und See ges  rt, gelesen, erfahren, gedacht haben, 
wie Alles, womit   ergleichspunct bieten, trägt zu dem 
Eindrücke bei, den i egenstände auf uns machen, und macht 
ihren Anblick dadurch zu etwas unsäglich Bedeutenderem, Reiche- 
rem, Lebendigerem, für das Gefühl Vertiefterem, für die Phantasie 
Productiverem, als für den, der nichts davon gesehen, gehört, ge- 
dacht hat. Und wie es mit Wald und See ist, ist es mit allen Ele- 
menten der Landschaft, Wiese, Feld, Berg, Haus. An Alles knüpfen
	        
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