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Erfüllung oder Nichterfüllung wir das Gefühl der Einstimmung
oder des Widerspruches haben, und es gehört Wesentlich zu jedem
schönen Werke, dass sich nirgends ein solcher Widerstreit geltend
mache, d. h. jeder Theil die durch die Totalität der übrigen er-
weckten associativen Foderungen befriedige, indess es gegentheils
zum guten Geschmacke gehört, so gebildet zu sein, um nur asso-
ciative Foderungen zu machen, die es auch wirklich recht ist zu
machen.
Jeder Baustil fodert aus allgemeinen ästhetischen und struc-
tiven Rücksichten eine gewisse innere Consequenz, und es kann
ein Theil dadurch, dass er aus dieser Consequenz heraustritt,
das Missfallen des Kenners verdienen; aber selbst ohne Kennt-
niss der Foderungen dieser Consequenz und selbst ohne wirk-
liche Verletzung einer solchen wird jeder Theil, der sich aus
einem Baustil in einen andern verirrt, worin er nicht heimisch ist,
ohne Weiteres missfallen, indem den associativen Foderungen,
die der Gesammtstil des Gebäudes an jeden seiner Theile geltend
macht, dadurch widersprochen wird. Auch hat man Recht der-
gleichen zu verwerfen, selbst wenn es an sich nicht verwerf-
lich wäre; denn ist die associative Federung einmal durch eine
sehr allgemeine Thatsache begründet, so hat man dieser Thatsache
auch Rechnung zu tragen.
Warum aber, so kann man fragen, missfällt uns nun doch
eine Sphinx, ein Gentaur, ein Engel mit Flügeln nicht, lauter
Compositionen , in denen Theile zusammengefügt sind, die in der
Natur nicht zusammen vorkommen, also sich auch nicht auf Grund
unsrer Erfahrungen in unsrer Vorstellung associativ fodern können.
Aber, was die Natur niemals zusammengefügt hat, hat die Kunst
so oft gethan, dass es uns endlich auch zusammenpassend erscheint,
obwohl eben nur in der Kunst, indess es uns in der Natur Grauen
erwecken würde. Und gar leicht kommt" doch die associative
Federung der Natur mit der der Kunst bei solchen Darstellungen
in Conflict. S0 geistreich die Illustrationen von Reinecke Fuchs
mit halb menschlich halb thierisch aussehenden und sich behaben-
den Figuren sein mögen, und so sehr sie uns aus anderen Gesichts-
puncten gefallen mögen, es bleibt doch etwas Störendes dabei.
Fragt man aber weit-er: wie konnte überhaupt die Kunst dar-
auf kommen, Zwittergestalten zu bilden, deren Anblick von vorn
herein beleidigen musste, so ist die Antwort die: niemals wäre sie