Volltext: Vorschule der Aesthetik (Theil 1)

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ziehung auf uns selbst ist und wirkt. Wenn schon nun dem Sinn 
unmittelbar nur Form undFarbe präsent ist, so fügt die Erinnerung 
das Uebrige, nicht einzeln, aber in einem Gesammt-Eindrucke 
hinzu, trägt es in den sinnlichen Eindruck hinein, bereichert ihn 
damit, malt ihn so zu sagen damit aus; wir mögen das kurz die 
geistige Farbe nennen, die zur sinnlichen hinzutritt, oder den 
associirten Eindruck, der sich mit dem eigenen oder direc- 
ten verbindet. Und darin liegt es, dass uns die Orange schöner" 
als die gelbe Holzkugel erscheint. 
In der That, sieht denn der, der eine Orange sieht, blos einen 
runden gelben Fleck in ihr? Mit dem sinnlichen Auge, ja; geistig 
aber sieht er ein Ding von reizendem Geruch, erquickendem Ge- 
schmack, an einem schönen Baume, in einem schönen Lande, 
unter einem warmen Himmel gewachsen, in ihr; er sieht so zu 
sagen ganz Italien mit in ihr, das Land, Wohin uns von jeher eine 
romantische Sehnsucht zog. Aus der Erinnerung an all das setzt 
sich die geistige Farbe zusammen, womit die sinnliche verschö- 
nernd lasirt ist; indess der, der eine gelbe Holzkugel sieht, eben 
blos trocknes Holz hinter dem runden gelben Flecke sieht, das in 
der Drechslerwerkstatt gedreht und vom Lackirer angestrichen ist. 
Beidesfalls associirt sich der aus der Erinnerung resultirende Ein- 
druck so unmittelbar an die Anschauung, verschmilzt so vollstän- 
dig damit, bestimmt so Wesentlich den Charakter derselben mit, 
als wenn er ein Bestandtheil der Anschauung selbst wäre. Daher 
wir freilich leicht geneigt sein können, ihn mit als eine Sache der- 
selben selbst zu rechnen, und nur durch Vergleiche, wie wir einen 
solchen eben anstellten, dahinter kommen können, dass er es 
nicht ist. 
Ein anderes Beispiel: 
W'arum gefällt uns eine rothe Wange an einem jugendlichen 
Gesichte so viel besser als eine blasse? Ist es die Schönheit, der 
Reiz des Both an sich"? Unstreitig hat das Antheil daran. Ein 
frisches Both erfreut das Auge mehr als Grau oder Missfarbe. 
Aber, frage ich wieder, warum gefällt uns hienach ein gleich fri- 
sches Both an Nase und Hand nicht ebenso gut wie an der Wange? 
Es missfällt uns vielmehr. Der wohlgefällige Eindruck des Both 
muss also bei der Nase und Hand durch ein missfälliges Element 
überboten werden. Worin kann das liegen? Es ist nicht schwer 
zu finden. Die rothe Wange bedeutet uns Jugend, Gesundheit,
	        
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