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freilich ein irriger Schluss war, wie z. B. Bilder des Titian und
Veronese neben solchen des Gian Bellini oder der alten Fla-
mänder augenfällig darthun.
Aber Während sich so in diesen silbergrauen Malgründen
noch ein direktes Anlehnen an die weissen Unterlagen bekundet,
verliess man diese letzteren auch geradezu gänzlich und setzte
mit Energie und Bewusstsein, aus Ursachen rein innerlich
künstlerischer Natur vollkommen dunkle und farbige an deren
Stelle. Das malerische Studium der Naturerscheinung hatte
bei den Italienern des I 5. Jahrhunderts einen geradezu wissen-
schaftlichen Charakter angenommen. Die Koryphäen der Kunst
betrieben aufs Eifrigste die Erforschung der Anatomie nicht
nur de.r menschlichen und thierischen, sondern selbst auch der
Pflanzen-Gestalt, sie wandten die Gesetze der Schwere und
Hebelkraft auf Bewegung und Statik der darzustellenden or-
ganisch gegliederten Körper an und erreichten so eine hohe
Meisterschaft zeichnerischer Darstellung aller Figur und ihrer
Gliedmaassen, in jeder nur möglichen Stellung und Ansicht.
Ein gleichermaassen wissenschaftliches Studium der Perspective
hatte der Malerei die Fähigkeit verliehen, die zeichnerische Er-
scheinung vertiefter Räumlichkeit und des Reliefs hier Platz
findender Solidkörper trefflich nachzuahmen; die ebenso gründ-
lich betriebene Erforschung der Gesetze der Beleuchtung fügte
hinzu, was dieser F ormenzeichnung noch an Schein der Plasti-
cität fehlte. Von dem letztgenannten aller dieser Studienfächer
kann man aber geradezu sagen, es sei durch die Oelfarben-
technik nicht nur auf Schritt und Tritt unterstützt, sondern
auch fort und fort neu angeregt worden. Denn erst diese Tech-
nik gewährte der Malerei die genügenden und ausgiebigen
Mittel zu Darstellung von Schatten und Licht.
Die Gelegenheit und den Raum, sich künstlerisch auszu-
sprechen, fand alles soeben Erwähnte in jener damals aufkommen-
den stark plastischen Mal- und Anschauungsweise, die man das
Clair-Obscur nennt und deren Ausbildung eben durch die Oel-
malerei möglich ward. Hier nun, wo tiefen und mannigfach
abgestuften Schatten ein grösserer Theil der Bildfläche ein-
geräumt wird und nur beschränkte Lichtmodellirungen sich aus