Bei diesen Vorstellungen spielt also der Zeichen- oder Mal-
grund, sozusagen, nur eine vorübergehende Rolle, als Vertreter
nehmlich eines idealen Schnittes des Sehstrahlenkegels, in ge-
wissem Abstand vom Auge ausgeführt, um die Bilder der Gegen-
stände in bestimmter Weise darauf festzuhalten. Dass dieser
so dehnirte Malgrund überhaupt einen sichtbaren Stoff hat, ist
nur eine unvermeidliche Unzukörnmlichkeit. Nicht, dass an dies
Materielle, wodurch die Flachengestalt dem Auge bernerklich
wird, auch nur gedacht wäre, die Fläche oder Oberfläche ist an
sich im rein mathematischen Sinn als das direkte Gegentheil des
Solidkörperlichen verstanden. Und an Stelle dieser körperlosen
Flächenhaftigkeit also soll im fertigen Bild der Schein wirklich
vorhandener Solidkörper getreten sein.
So fasste Lionardo und seine Zeit die Aufgabe des Malers.
Den Malgrund selber neben den darauf dargestellten, nur fin-
girten Körpern in seiner wirklichen Materie hervorzuheben und
derb fühlbar zu machen, sei es durch gewisse Arten des Farben-
auftrags, der Pinselführung, durch Schmutz oder sonstige zum
Gegenstand des Bildes nicht gehörige Zufälligkeiten, ist erst
moderne Erfindung.
S2. Obwohl jedoch Lionardo an solchen und anderen
Stellen seiner Schriften den Anschein des Körperlichen für das
Hauptwunder der Malerei erklärt, so gibt er sich doch nicht der
Illusion hin, als könne ein auf der Fläche fingirter Gegenstand
auf das Auge des Beschauers denselben drastischen Effekt der
Rundung und des Freistehens hervorbringen, wie ein wirklich im
freien Raum gesehener.
In umstehender FigurI macht er sich den obwaltenden
Unterschied in seinen Ursachen klar. a, 6 sind die beiden
Augen, die den wirklichen freistehenden Körper K vor der
Wand c, d, e, f erblicken. Beide Augen zusammen sehen
hinter dem Körper die ganze Wandstrecke von c bis f; schliesst
sich aber das linke Auge a, so wird das Stück c-d nicht mehr
gesehen werden, und wenn a offen bleibt und das rechte Auge
6 sich schliesst, das Wandstück e-f nicht mehr. Dem ver-
I Libro
Pittura.
Quellenschriftenausgabe.
N0. 494