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Alle die Entwickelungsstadien, Irrungen und Verbesserungen,
die bei diesen Dingen eintreten können, brauchen so nicht auf
dem Malgrund selber durchgemacht und vorgenommen zu werden,
und dessen Reinheit bleibt unverletzt. Erst, wenn man glaubt,
in der Vorarbeit Alles recht an seinen Platz gestellt und alle
groben Zeichenfehler und Unbestimmtheiten beseitigt zu haben,
pausst man die Contoure des Cartons auf das Sauberste auf den
Malgrund über. Nur das zierliche kleine Detail, das während
der ersten Stadien des Malens noch nicht in Betracht kommen
kann, wird hier noch fortgelassen.
Dass ein solches vorsichtiges, vorbereitendes Verfahren die
Lebendigkeit und Frische echten künstlerischen Geistes und
seiner Intentionen nicht abstumpft, wie Manche meinen, wird
genügend durch die Werke der altfiamischen, -deutschen und
Jtalienischen Meister dargethan, von denen ganz feststeht, dass
sie sich auch bei Oelmalerei stets des Cartons bedient haben.
Für die Brüder van Eyck und ihre berühmten altniederländi-
sehen Nachfolger bezeugt dies ausdrücklich Carel van Mander,
indem er hinzufügt, es gäbe von diesen erste Aufzeichnungen
auf weisse Malgründe, die bereits eine vollendeter-e und feinere
Ausführung zeigten, als fertig gemalte Bilder seiner eignen Zeit-
genossenl. Auch in den um die Mitte des 16. Jahrhunderts
geschriebenen Malerbüchern des Lomazzo, Biondi, Borghini,
Armenini und Vasari beginnen die Anweisungen zur Oelmalerei
regelmässig mit der Uebertragung des Cartons auf die äusserst
rein zu haltende Mali-lache, und von Lionardo da Vinci, dem es
doch beim Durchführen seiner Werke wahrlich nicht an Frische
und Lebhaftigkeit gebrach, besitzen wir auf der ersten Seite des
Codex A seiner in Paris aufbewahrten Schriften eine eigenhändige
Notiz, der zufolge das Erste, was der Maler nach sorgfältiger
Herstellung und Reinigung des Oelfarbengrundes der Maltafel
vornimmt, im Durchpaussen des Cartons besteht. Endlich aber
sind ja in der That gar manche Cartons, auch zu einfacheren,
wenig umfangreichen Oelbildern der grössten Meister jener Zeit
zum Zeugniss des Gesagten erhalten geblieben.
I Carel van Mander schrieb zu Ende des 16. und zu Anfang des
I7. Jahrhunderts.