Volltext: P. L. Bouviers Handbuch der Ölmalerei für Künstler und Kunstfreunde

238 
Zwölfter 
Abschnitt. 
Die 
Übermahmg. 
oder auch eine Figur durch eine möglichst gute und vollendete 
Malerei so naturgetreu, charakteristisch und zugleich interessant 
darzustellen wie eben nur möglich. Die allein dahin führenden 
Mittel und Wege waren gröfst möglichste Vollendung, in bezug 
auf die Form, in Zeichnung und Modellierung und in der Farbe. 
Nun giebt es aber Portraits, die Zug um Zug des Gesichts im 
einzelnen ganz getreu sind und doch keine Ähnlichkeit haben. 
Da nun auch vielfach vorkommt, dal's ein ziemlich häfslicher 
Mensch seiner schönen Schwester, ein kleines Kind seinen Eltern 
oder Grofseltern ähnlich sieht, so scheint die Ähnlichkeit noch 
etwas anderes zu erfordern als die getreue Wiedergabe aller ein- 
zelnen Teile eines Gesichts, und dies ist auch ganz richtig. 
Es ist schon früher darauf aufmerksam gemacht, dafs eben 
so wichtig, wie die getreue Nachbildung aller einzelnen Teile, so 
ihr Zusammenhang und ihre Übereinstimmung unter einander 
wenn nicht von gröfserer, doch von gleicher Bedeutung für die 
Naturwahrheit irgend eines Gegenstandes, zumal aber eines leben- 
den Wesens sind. Diese Übereinstimmung ist aber eben nicht so 
leicht herzustellen (und zwar nicht nur für Anfänger), auch wenn 
man sein Modell so lange man wollte zur Verfügung hatte. Denn 
während der langen Dauer einer Sitzung wird es Ausdruck und 
Aussehen vielfach verändern. Kann man sich wohl denken, dafs 
eine Person (besonders eine junge Dame), die man vor sich auf 
einem Stuhl so gut wie angenagelt hat, die sich nicht frei bewe- 
gen kann, lange Zeit alle Anmut der Physiognomie, die jeder an 
ihr kennt, wird beibehalten können? Was wird aus der Beweg- 
lichkeit ihrer Gesichtszüge und aus all dem Zauber werden, den 
sie in der Gesellschaft in einer munteren und angenehmen Unter- 
haltung entfaltet? Der Ausdruck von Glück und Freudigkeit 
weicht dem des Zwanges und Verdrusses, die ein Mensch bei 
einer langen Sitzung empfindet, und besonders Damen. Allein 
damit ist nicht etwa gesagt, dal's man aus allen jungen Personen 
eine Hebe oder eine Venus machen müsse, oder aus allen Jüng- 
lingen einen Adonis oder einen Apollo. 
Nicht im entferntesten, sondern nur dies, dal's wenn man die 
Natur Zug um Zug nachahmen wollte, wie man sie grade im Au- 
genblick eben vor sich sieht, man im Verlaufe der Arbeit und bei
	        
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