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Lection.
Neunzehnte
Retouche.
die Richtigkeit seiner Gedanken unsere Urtheilskraft rührt; man
wird nichts als Worte gehört haben. So verhält; es sich auch
mit dem Maler, der seine Meisterschaft missbraucht; er blendet
uns einen Augenblick, aber bald erblicken wir in seinem Werke
weiter nichts als den Mechanismus der Hand; er spricht nicht
zu unserer Einbildungskraft; er leistet unserem Geschmack kein
Genüge; mit Recht geben wir furchtsam gemalten Werken den
Vorzug vor den seinigen, weil wir in denselben ein lobenswür-
diges Bestreben und wohlstudirte Parthieen entdecken.
Arbeitet also lange Zeit; durch Studiren und Nachdenken
lasst Urtheilskraft und Talent reif werden, ehe ihr euch für fähig
haltet, durch Behandlung und Pinselfiihrung zu glänzen; denn sie
ist blos das Resultat des Wissens. Da sie das unterscheidende
Merkmal eines vollendeten"
sie niemals das Eigenthum
lente sein.
Malers in seiner Kunst ist, so wird
der Anfänger noch gewöhnlicher Ta-
Wir beschliessen diesen Gegenstand mit einer wichtigen Be-
obachtung. Ein kleines Staffeleigemalde, das nahebei gesehen
werden soll, darf nicht eben so dick impastirt und behandelt
sein, als ein grosses Gemälde. Die Art und die grössere oder ge-
ringere Delicatesse der Arbeit muss der Grösse des Gegenstandes
und der Entfernung angemessen sein, aus welcher es betrachtet
werden soll. Man wird einsehen, wie unverstandig es sein würde,
ein Gemälde von funfzehn bis zwanzig Zoll eben so zu behan-
deln, wie ein anderes von funfzehn oder zwanzig Fuss. Das
erste muss zart, das zweite breit behandelt werden, ohne dieses
würde das eine einen rauhen und sehr unangenehmen Effect für
das Auge machen, das demselben sehr nahe kommen wird, und
das andere würde viel von seiner Kraft und Wirkung verlieren,
weil es aus einer gehörigen Entfernung beurtheilt werden muss 1).
1) Man ist allgemein darin einverstanden, dass die Entfernung, aus welcher
der Zuschauer ein Gemälde sehen und gut beurtheilen kann, zweimal so gross
sein muss, als die Ausdehnung des Bildes. Nach dieser Regel können die Ma-
ler leicht den Grad der Ausführung oder Vollendung ihres Gemäldes berech-
nen, um den Effect zu erreichen, den sie wünschen. Auch muss der Maler
zuvor berechnen, wie hoch sein Gemälde aufgestellt werden soll, damit er sei-
nen Augenpnnkt passend und der Art: wähle, (lass alle Gegenstände so er-