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Neunzehnte
Lection.
Retouche.
Wesen, den Verdienst und den natürlichen Ausdruck eines ein-
zigen geistreichen, kühnen und kundigen Pinselstrichs ausmacht.
Alles, was man dreist und wie im Fluge thut, ist mit einem
eleganten und reizenden Wesen verbunden: dies ist ein Erfah-
rungssatz, der nicht geleugnet werden kann.
Wenn man mit schwebender Hand eine Verzierung oder Ini-
tiale zeichnet, so hat die Arbeit bei allen ihren Unvollkommen-
heiten mehr Eleganz, als diejenige, welche man ängstlich und be-
dachtig mit aller Aufmerksamkeit und möglichster Symmetrie ent-
werfen hat. So verhält es sich auch mit einem dreisten Strich.
Ob mit dem Pinsel, mit dem Stift oder mit der Feder gemacht,
er hat etwas unerklärlich Anziehendes und Geistreiches, woraus
das Talent und die Absicht des Künstlers um so mehr heraus-
leuchten, je weniger
als wenn das Gefühl
Zaghaftigkeit darin sichtbar ist; es scheint,
des Künstlers wie ein reissender elektrischer
Strom in seine Finger übergegangen wäre. Wenn er zagt, wenn
er anhält in der Hoffnung, es besser zu machen, so erkaltet die
Begeisterung, und es wird nicht so gut gelingen.
Daher kommt es, dass eine Skizze von einem geschickten
Künstler dem wahren Kenner so viel Vergnügen macht; daher
kommt auch die Schwierigkeit, fast möchte man sagen Unmög-
lichkeit, eine geistreiche Skizze zu copiren, ungeachtet Nachlässig-
keiten, ja sogar Unrichtigkeiten darin sein mögen. Man sieht
darin weder eine reine Zeichnung, noch die angenehme Harmonie,
die man in einer fleissig ausgeführten und durchgefeilten Zeich-
nung bewundert; allein die Skizze drückt mehr Dinge aus, als
vollendete Werke, die, ein blosses Product der Geduld, entblösst
von Feuer, Wärme und Gefühl sind. Mit wenigen Kreidestrichen
viel auszudrücken, ist es nicht ebenso viel, als mit wenigen Wor-
ten viel sagen? Jeder Mensch daher, welcher eine Skizze oder
einen Entwurf geistreich zu machen im Stande ist, wird nothwen-
dig auch eine geistreiche Behandlung selbst in seinen ausgeführ-
testen Werken haben, wenn er nur Erfahrung genug erlangt hat,
um Herr der Behandlung seiner Farbe zu sein.
So wird auch besonders durch die Art und Weise der Pin-
selüihrung möglich, dass geübte Augen erkennen können, 0b ein
Gemälde von diesem oder jenem Meister ist, und mit so vieler