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Neunzehnto
Lection.
Retouche.
Schatten in der Mitte des höchsten Lichts der Stirn oder der
Nase macht für das Auge einen viel unangenehmeren Etfect, als
die glänzende Seite dieser dicken Farbe eine günstige Täuschung
oder Modellirung hervorbringen kann. Man nehme doch ja den
Grundsatz an, dass man die fehlerhafte Seite grosser Meister
nicht nachahmen muss, was allezeit leicht ist, sondern dass man
sich bemühen muss, eben die Wirkungen zu erreichen, ohne das
mitunter falsche mechanische Verfahren ihrer Manier zu be-
folgen.
Ein geschickter Mensch endlich weiss aus Allem Nutzen zu zie-
hen, selbst aus einem Fehler; der Anfänger hingegen findet in seiner
Fähigkeit keine Hülfe, ihn zu verbessern; er verwickelt sich immer
mehr und mehr; er ertrinkt in dem Uebermass der Farbe; er
martert und beschmutzt sie, um die Form anzudeuten, und hier-
durch wird seine Arbeit noch viel schlechter; denn es muss bis
zum Ueberdruss wiederholt werden: alle Farben verändern sich
und werden schlechter, wenn sie nicht frei mit einer gewissen
Frische gebraucht" werden. Man bemerkt dies nicht gleich, allein
in- kurzer Zeit wird man davon vollständig überzeugt.
Man- falle aber auch nicht von einem Extrem inls andere
und fürchte sich nicht zu sehr vor dem Impastiren, besonders in
den Lichtern, damit nicht diese Furcht alle Freiheit und allen
Schwung hemme, besonders in Werken von grossem Umfang:
sonst wird die Arbeit kalt, glatt, eintönig, und würde von fern
betrachtet gar keine Wirkung hervorbringen.
Die grossen Meister geben uns die Vorschrift, mit der Farbe
im Schatten sparsam zu sein und sie nicht zu impastiren,
hingegen empfehlen sie fett zu malen und die Lichter aus-
reichend zu impastiren, besonders die glänzenden Parthieen,
dergleichen sind für die Fleischfarbe der hellste Theil der Stirn,
die Lichter der Nase, die Brust, die Schultern etc., sowie über-
haupt Alles, was sehr hell und leuchtend ist.
Was Draperieen betriüt, besonders von schweren Stollen
(wenn sie im Vordergrunde sind), so müssen die Lichter dick ge-
malt werden; unser Borstenpinsel muss mit Farbe wohl gesättigt
sein, wenn man die scharfen Kanten der Metalle, des polirteu
Holzes, den Glanz der Glaser und glasirten Gefässe etc. malt.